Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
plagte ihn schlimmer Hunger. Er machte sich über die Cola und die Schokoriegel her, die in seinem »green room« für ihn und sein Team bereit standen. Derartig mit Zucker und Koffein vollgepumpt stürmte er die Bühne, wirkte fahrig und aufbrausend. Besonders übel wurde ihm genommen, dass er während der Ausführungen seines Kontrahenten angeblich höhnisch ausatmete und Bush einmal ganz nah auf die Pelle rückte. Als ewiger Zweiter, er war acht Jahre lang Vizepräsident von Bill Clinton gewesen, sollte er deutlich machen, dass er auch ein dominierendes Alphamännchen sein könne. So hatte es ihm jedenfalls seine Beraterin Naomi Wolf eingetrichtert. Doch dieses Bemühen um eine dominante Figur wurde unter Einfluss der Nahrungsmittel und Getränke zu einem Verhalten, das von den Zuschauern als arrogant, unkoordiniert und übergriffig empfunden wurde. Bei François Mitterrand war es ein allzu langer, allzu tiefer Mittagsschlaf, der ihn in den siebziger Jahren gegen Giscard die Präsidentschaft kostete. Er griff den Gaullisten mit einer bewegenden Schilderung sozialer Missstände an, auf die der aber cool entgegnete: »Sie haben nicht das Monopol des Herzens, Monsieur.« Mitterrand fiel darauf nichts Adäquates ein. Er verlor.
Peer Steinbrücks Unterstützer trafen sich schon am späten Nachmittag im vierten Stock des Berliner Radialsystems. Heiko Geue hob zu einer kleinen Ansprache an, aber hinter ihm befand sich ein großer Flachbildfernseher, den keiner ausgeschaltet hatte und der bunt und seicht vor sich hin sendete. Eine beherzte Mitarbeiterin griff sich dann irgendwann doch noch die Fernbedienung und rettete den Moment, denn das süßliche Sonntagnachmittagsprogramm drohte, die aufrüttelnde politische Lagebeschreibung zu übertönen.
Danach versuchte ein bekannter Schriftsteller, über Heiko Geue – »Sie sprechen doch mit Steinbrück?« – noch eine Nachricht an den Kandidaten loszuwerden. Er solle ihm klarmachen, dass die höhere Steuer erst ab dem Betrag über der Grenze greife, für diesen Betrag und nicht für das gesamte Vermögen. Es ist natürlich ein viel zu spezieller Punkt so kurz vor dem Auftritt. Was Steinbrück auswendig können muss an Zahlen und Fakten, entspricht dem Örtlichen Telefonbuch einer saarländischen Kleinstadt. Entscheidend ist es, die Stunden vor so einem Auftritt ohne Störung und Verzettelung zu verbringen.
Die Vorbereitung des Kandidaten auf das zentrale Duell und die heiße Phase war ein Konzentrat der ganzen Kandidatur: Eine gewissenhafte intellektuelle Vorbereitung traf auf flüchtige und verquere organisatorische und personelle Strukturen. Es musste erst eine passende Struktur geschaffen und Sachverstand von außen angeworben werden. Der schon erwähnte Berater, der Wahlkampfleiter und der Kandidat gingen in Klausur. Seit Wochen wurde geprobt, wurden die Botschaften reduziert und komprimiert. Passagen, die zunächst nicht nach seinem Wortlaut klangen, musste er bei Veranstaltungen immer wieder aufsagen, damit sie saßen und seinen spezifischen Sound bekamen, etwa den Satz mit den leeren Schachteln im Schaufenster. Steinbrück bevorzugt eher maritime, sportliche oder Schlachtenmetaphern, nichts mit Schächtelchen und Schleifchen beim Schaufensterbummel. Aber er eignete es sich an, im Duell und in den Klartext-Veranstaltungen brachte er die Analogie, als wäre sie ihm eben eingefallen.
Die Papiere zu den erwarteten Themenkomplexen füllten einen ganzen Ordner, sehr wichtige Fragen wurden noch mal auf den Umfang einer Seite reduziert, sogenannte Onepager, obwohl oft auch noch die Rückseite beschrieben war.
Der Tag markierte Höhepunkt und Abschluss einer Phase fast verzweifelter Arbeit des engeren Teams um Steinbrück, mit dem Ziel, ein Desaster abzuwenden und womöglich noch etwas zu gewinnen. Nach dem offen ausgetragenen Konflikt mit dem Parteivorsitzenden und den Tränen des Kandidaten war so etwas wie eine Talsohle erreicht, es wurde Bestandsaufnahme gemacht. Eine interne »schonungslose Analyse der Situation« vom Beginn des Sommers ergab zunächst einmal, dass Steinbrück Hilfe brauchte. Nicht allein von Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier, sondern explizit auch von Hannelore Kraft, Olaf Scholz und Stefan Weil. Die drei sozialdemokratischen Länderchefs sollten helfen, Merkel in bestimmten, die Länder betreffenden Sachfragen wie zum Beispiel dem Kita-Ausbau anzugreifen. Das war aber nahezu völlig ausgeblieben. In der Rückschau kann man feststellen,
Weitere Kostenlose Bücher