Der Zorn Des Skorpions
bei der Polizei wusste, wo sie war, standen die Dinge schlimmer, als er befürchtet hatte.
Bumm!
Grace Perchant riss schlagartig die Augen auf.
Wenngleich sie glaubte, sie gar nicht zugemacht zu haben.
Sie blinzelte. Versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, als der Knall, wie ein Donnerschlag ganz in der Nähe, erneut durch ihren Kopf schoss.
Um sie herum fiel Schnee, und sie befand sich mitten auf der Straße, in Stiefeln, ihrem Flanellnachthemd und einem langen Mantel, der ihr um die Beine schlug. Ihre Haut war eisig kalt. Ihr Hund, Sheena, war in der Nähe, wachsam und treu wie immer. Mit intelligenten Augen und schwarzem Fell, das ihre Abstammung von Wölfen Lügen strafte, wartete Sheena geduldig wie immer. Sie wartete, selbst wenn Grace einen ihrer Anfälle erlitt.
»Lieber Gott«, flüsterte Grace zitternd. Ihre Finger und Zehen waren nahezu taub, ihr Atem stand wie eine Wolke vor ihrem Mund.
Bilder aus ihrem Traum schwirrten ihr durch den Kopf. Lebensecht. Erbarmungslos. Real. Wie Glasscherben bohrten sie sich in ihr Hirn. Wie in einer Momentaufnahme sah sie das grauenhafte Bild einer Frau in einem zerbeulten Jeep, von Schmerz geschüttelt. Und einen Stalker. Der Böse, der sie aufspürte.
Grace’ Puls beschleunigte sich, als das Bild einem anderen wich. Jetzt sah sie dieselbe Frau in einer Zwangsjacke, wie sie aus der winterlichen Schlucht geschleppt wurde. Von einem Mann in Weiß, einem Mann mit bösen Absichten.
Rasch veränderte sich die Szene, und das weibliche Opfer stand jetzt nackt an eine kältestarre Tanne gefesselt, das rote Haar steif von Eis und Schnee, die goldbraunen Augen groß vor Angst. Ihre Haut verfärbte sich bläulich.
Regan Pescoli.
Die Polizistin.
Mit betäubender Sicherheit wusste Grace, dass der Mörder sie erwischt hatte. Sie überfallen hatte. Sie umbringen wollte. Wenn er es nicht schon getan hatte.
Es war nicht das erste Mal, dass eine Vision sie heimsuchte; schon einmal hatte sie einen Blick auf die dem Kerl eigene, erbarmungslose Grausamkeit erhascht.
Zu dem Zeitpunkt, es war erst ein paar Tage her, hatte Grace versucht, Pescoli zu warnen, wollte sie auf die drohende Gefahr hinweisen, doch die Polizistin hatte nicht auf sie gehört.
Wie alle anderen auch.
Gut, jetzt waren die Visionen plastischer. Deutlicher. Sie blickte zum dunklen Himmel auf, spürte, wie die kalten Schneeflocken auf ihrer Haut schmolzen. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Wie lange war sie schon hier draußen? Wie lange war sie schon wie eine Schlafwandlerin diese kurvenreiche, einsame Straße entlanggetrottet?
»Komm, Sheena«, sagte sie und schlang gegen den Wind, der durch die Berge raste, die Arme um ihren Körper. »Schnell nach Hause.«
Der große Hund – er wog an die einhundertundfünfzig Pfund – trabte entschlossen los, durch die frischen Spuren, die sich bereits mit Schnee füllten, ihre eigenen Spuren und die Pfotenabdrücke des Wolfshunds, die dahin zurückführten, von wo sie gekommen waren, den Weg, an den sie sich nicht erinnerte.
War sie ein paar hundert Meilen oder nur eine Meile weit gelaufen? Bei Nacht sah die froststarre weiße Landschaft überall gleich aus. Und ihr Verstand, nach einer Vision gewöhnlich klarer denn je, erkannte keinen einzigen vertrauten Orientierungspunkt. Doch die Spuren waren frisch, und sie glaubte nicht, dass sie sich schon Erfrierungen zugezogen hatte. Doch sie stand wohl kurz davor. Sie musste beinahe rennen, um mit dem Hund Schritt zu halten.
Sie hasste ihre Visionen – anders konnte man sie nicht bezeichnen –, und sie wünschte sich, dass das einmal aufhören würde, aber vergebens. Damit ist es erst vorbei, wenn ich sterbe, dachte sie missmutig und zog den Mantel fester um sich, den sie sich nicht entsann, angezogen zu haben. Ihre Stiefel knirschten im weichen Schnee.
Die Visionen hatten eingesetzt, als sie dreizehn war und der Unfall passierte, der ihre Eltern und ihre ältere Schwester Cleo das Leben gekostet hatte. Es geschah in einer Winternacht ähnlich der jetzigen. Sie und Cleo hatten sich auf dem Rücksitz gestritten, während ihr Vater in den aufkommenden Schneesturm blinzelte. Ihr alter Volvo quälte sich bergauf, der Vier-Zylinder-Motor grollte laut, die Reifen gerieten leicht ins Rutschen, aus dem Radio ertönte statisches Knistern.
»Dieser idiotische Schnee«, knurrte Vater. »Ich schwör’s euch, nächstes Frühjahr ziehen wir nach Florida!«
»Nein!« Cleo hatte ihn gehört. »Wir können doch nicht
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