Der Zorn Des Skorpions
umziehen! Alle meine Freunde sind hier!«
»Egal«, blieb er bei seinem Entschluss und schaltete das Radio aus. Er blickte verbissen drein, wie immer, wenn er einen Entschluss gefasst hatte. Das Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Fahrzeugs strahlte sein Gesicht an und ließ seine Züge im Profil scharf erscheinen. Grace, die hinter ihrer Mutter auf dem Rücksitz saß, fand, dass er plötzlich sonderbar aussah, so zerfurcht und hart.
Cleo schmollte und verlangte von ihrer Mutter: »Sag ihm, dass wir nicht umziehen können!«
Ihre Mutter drehte sich um, sah Cleo an und sagte ruhig: »Natürlich ziehen wir nicht um.«
»Ich meine es ernst.« Vater blinzelte; die Scheinwerfer näherten sich der geschwungenen Brücke über den Boxer Creek, der sich mehr als fünfzehn Meter tiefer durch die Schlucht gegraben hatte.
»Das kannst du nicht machen!« Cleo löste ihren Sicherheitsgurt und beugte sich vor, bettelte, strich sanft über seine verspannte Schulter. »Das darfst du nicht einmal im Scherz sagen. Ich ziehe nicht um.«
»Liebling, wir ziehen nirgendwohin. Dein Vater ist Vorarbeiter in der Mine. Komm, mach dir deswegen keine Gedanken.«
Und dann: »Was soll das?« Die Stimme ihres Vaters klang gepresst vor Schreck, als das Fahrzeug auf der Gegenspur näher kam. »Blende doch ab, du Dummkopf.« Er betätigte die Lichthupe.
»Hank«, wies ihre Mutter ihn zurecht. Zwei blendende Lichtsäulen fluteten das Wageninnere mit grellem weißem Licht. »Hank! Pass auf!«
Zu spät!
Vater riss das Steuer herum, um die drohende Kollision zu vermeiden, und der Wagen geriet ins Schleudern. Unkontrollierbar. Der überholende Lastwagen prallte gegen das Heck, und der Volvo begann, wie verrückt zu kreiseln.
Cleo schrie und wurde gegen Grace geschleudert.
Grace’ Kopf schlug gegen das Seitenfenster. Ihr Schädel schien vor Schmerzen zu explodieren.
Mutter schrie: »Pass auf, pass auf, o nein!« Der Wagen prallte gegen die Leitplanke, wurde auf den eisglatten Asphalt zurückgeworfen und rutschte immer schneller auf die andere Seite der Brücke zu.
Inmitten des grauenhaften Ächzens von reißendem Metall durchbrach der Volvo die Leitplanke. Reifen platzten, Glas zersplitterte.
Der Wagen stürzte ab!
Cleo schrie. Mutter betete. Und Vater fluchte, während Grace das Bewusstsein verlor.
Sie spürte den Aufprall nicht, der ihrer Mutter das Genick brach und gebrochene Rippen in die Lungen ihres Vaters trieb. Sie war nicht präsent, um zu bezeugen, wie Cleo aus dem Auto geschleudert, von ihm überrollt wurde und solche Quetschungen erlitt, dass sie sofort tot war.
Achtzehn Tage später erwachte Grace im Krankenhaus und musste erfahren, dass ihre gesamte Familie ausgelöscht war. Alle tot. Sie hatte überlebt, obwohl sie im Wasser des Bachs halb erfroren und ihre Körpertemperatur beängstigend niedrig gewesen war. Nur ein paar blaue Flecke vom Sicherheitsgurt und eine Gehirnerschütterung zeugten von ihrer Anwesenheit in dem Todesfahrzeug. Ein beteiligter Fahrer oder ein beschädigtes Fahrzeug wurde nie aufgespürt, und als sie erfuhr, dass ihre Familie tot war, hatte sie schlicht »Nein« gesagt.
Weil sie sie doch alle noch sehen konnte. Mit ihnen redete.
Mit allen: mit Vater, Mutter und Cleo. Auch jetzt noch. Nach mehr als vierzig Jahren.
Das Pflegepersonal war natürlich überzeugt davon, dass sie verrückt war, halluzinierte, Bilder heraufbeschwor.
Wenn es nur so wäre,
dachte sie jetzt, als der Hund um eine Kurve bog und sie ihr Häuschen sah, eingefasst von Schneewehen und dunkel wie die Sünde auf einem kleinen Hügel am Straßenrand. Grace rieb sich die Arme, beschleunigte ihren Schritt und sagte sich, dass man ohnehin nicht auf sie hören würde, wenn sie jemandem von ihrer letzten Vision erzählte. Dass man wieder über sie lachen würde.
Vor dem Unfall, als Kind, hatte sie sich manchmal in Tagträumen verloren. War allein auf dem Schulhof zurückgeblieben, ohne den Schulgong oder das Johlen und Lachen der anderen Kinder zu hören.
Dann hatten sie sie gehänselt, und oft war sie weinend nach Hause gelaufen, um von ihrer Mutter tröstend gesagt zu bekommen, sie sei eben »besonders«, während Cleo vor »der Verrückten«, wie sie ihre Schwester nannte, zurückschreckte. Zu dieser Zeit wurden ihre Träume lediglich als Fantasien eines »begabten« Kindes abgetan. Medizinische Ursachen für ihre zeitweiligen Absenzen ließen sich nicht feststellen. Und wenngleich IQ -Tests und Prüfungen sie als völlig
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