Der Zorn Des Skorpions
durchscheinenden geisterhaften Umriss. Sie hörte nur Stimmen. Wie immer.
Sie richtete sich auf und nahm das Foto vom Kaminsims. Der Anblick ihrer auf der vorderen Veranda zusammengedrängten Familie zerriss ihr das Herz. Doch rasch drängte sie die sehnsüchtige Rührseligkeit und das Selbstmitleid beiseite.
Wieder tauchten Bilder von Regan Pescolis gequältem Gesicht vor ihr auf, und Grace holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie sich zusammenriss und sich der Lächerlichkeit preisgab, indem sie ihre Vision der Polizei offenbarte.
»Weißt du«, sagte sie zu dem inzwischen schlafenden Hund, »manchmal ist ›Gabe‹ ein anderes Wort für Fluch.«
Schlag drei Uhr.
Selena Alvarez saß an ihrem Schreibtisch im Büro, putzte sich die Nase und blickte ärgerlich auf den Monitor ihres Computers. Sie hatte Pescoli auf dem Handy angerufen, keine Antwort erhalten und daraufhin versucht, den Ex-Mann ihrer Partnerin, Luke »Lucky« Pescoli zu erreichen, doch der meldete sich einfach nicht. Schließlich hatte sie noch einmal Nate Santana angewählt, aber vergeblich. Zwar hatte Pescoli ihr den Namen des letzten in der Reihe ihrer Taugenichts-Lover nicht verraten, doch Alvarez war überzeugt davon, dass sie sich mit Santana traf. Der Kerl entsprach genau Pescolis Typ: ein gutaussehender Herumtreiber, der vor ein paar Jahren in die Stadt eingefallen und Selenas Partnerin erst kürzlich ins Auge gesprungen war.
In Bezug auf Männer lernte Pescoli einfach nichts dazu.
Ihr erster Mann, Joe Strand, war Polizist gewesen und im Dienst erschossen worden, doch seine Moralvorstellungen galten als fragwürdig. Pescoli hatte Alvarez gestanden, dass sie Strand, ihre College-Liebe, geheiratet hatte, als sie wusste, dass sie schwanger war. Ihre Ehe sei zerrüttet gewesen, es habe während einer vorübergehenden Trennung jede Menge Affären gegeben. Luke Pescoli, ihr Ex-Mann, verteufelt sexy, aber nutzlos, schuldete ihr inzwischen ein paar Tausender an Unterhalt.
Das war Pescolis Problem: Sie suchte sich ihre Männer lieber nach dem Aussehen aus, statt auf Verstand oder guten Charakter zu achten. Nate Santana war der beste Beweis dafür: ein ruhiger Typ mit scharfen Zügen und stechenden dunklen Augen, die nie verrieten, was er dachte. Er war ein athletischer Cowboy mit durchtrainiertem Körper und beißendem Humor, offenbar stets bereit, ein halbwildes Pferd ohne Sattel zuzureiten wie auch eine ganze Nacht mit Sex zu verbringen.
Vielleicht war er gut im Bett. Aber ganz sicher nicht tauglich zum Ehemann, den Pescoli sowieso nicht wollte, wie sie behauptete.
Alvarez putzte sich die Nase und schüttelte die Sorgen ab. Immerhin hatte Pescoli angerufen. Noch einmal spulte Alvarez die Nachricht ab:
Ich bin’s. Hey, ich muss eine Privatangelegenheit klären. Lucky und die Kinder. Es kann eine Weile dauern. Springst du bitte für mich ein?
Pescolis Stimme klang fest. Entschlossen. Beinahe wütend. Aber war das etwas Neues? Allerdings stammte dieser Anruf von gestern. Heute hatte sie sich noch nicht gemeldet.
Da war etwas faul. Ganz eindeutig. Pescoli war in erster Linie mit Leib und Seele Polizistin. Ganz sicher hätte sie noch einmal angerufen, zumal sie im Fall des Unglücksstern-Mörders jetzt endlich jemanden verhaftet hatten. Dieses Ereignis hätte sich Detective Regan Pescoli unter gar keinen Umständen entgehen lassen, nicht, nachdem sie monatelang versucht hatte, den Perversen zu stellen.
Schniefend warf Alvarez das Papiertaschentuch in den überquellenden Papierkorb unter ihrem Schreibtisch. Diese Erkältung – oder Grippe –, die sie sich eingefangen hatte, ging ihr langsam gehörig auf die Nerven.
Sie bezweifelte, dass sie überreagierte. Auch wenn Pescoli angedeutet hatte, dass die Regelung ihrer Privatangelegenheiten ein wenig Zeit in Anspruch nehmen könnte, stimmte hier etwas nicht.
Alvarez warf einen Blick auf die Uhr hoch oben an der Wand. Pescolis Nachricht war gestern am späten Nachmittag eingegangen, und seit diesem Zeitpunkt glaubte die Polizei von Spokane in Washington, den Mörder gestellt zu haben.
Alvarez war sich da nicht so sicher.
Heute schien irgendwie überhaupt nichts zu stimmen. Doch bald schon würde Sheriff Grayson sich auf den Weg machen, um festzustellen, ob die Person, die die Polizei von Spokane als Serienmörder verhaftet hatte, wirklich ihr perverser Täter war.
Alvarez allerdings bezweifelte, dass die verhaftete Verdächtige sich wirklich
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