Der Zorn Gottes
habe ich noch vor mir.«
Cranston nickte weise.
»Und dein Meister hat immer hier gearbeitet?«
»Oh ja, hier oder im
Garten.«
»Und er bekam nie
Besuch?« lächelte Cranston. »Von diesem jungen Edelmann
hier, zum Beispiel?«
Der Bursche schaute Clifford
an und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es kamen immer nur der
Bürgermeister und der Sheriff.«
Athelstan verließ die
Werkstatt und ging den Korridor hinunter. Er lächelte der jungen Magd
in der Küche zu und ging durch die Hintertür hinaus. Der Garten
war gut gepflegt mit einem kleinen Rosengebüsch, einem Gemüsebeet
sowie Blumen und Kräutern, Iris, Lilien, Primeln und Kornblumen, die
einen kleinen Teich umstanden. Die Luft war vom süßen Duft der
Kräuterbeete erfüllt: Kamille, Fenchel, Lavendel, sogar ein
wenig Ysop und Majoran wuchsen dort. Athelstan sah ein kleines Backsteinhäuschen
am Ende des Gartens und folgte dem Pfad dorthin. Überrascht stellte
er fest, daß die schwere Tür verriegelt und mit einem Vorhängeschloß
gesichert war. Er kehrte ins Haus zurück und fragte den Jungen nach
dem Schlüssel. Der schüttelte den Kopf.
»Den hat Master Sturmey
extra aufbewahrt«, erklärte er. »Wir durften dort nie
hinein.«
Neugierig geworden, folgten
Cranston und Clifford Athelstan hinaus in den Garten. Der Coroner hatte
Hammer und Meißel von einer Werkbank mitgenommen und machte kurzen
Prozeß mit dem Vorhängeschloß. Im Innern des steinernen
Schuppens roch es muffig. Cranston stieß die Fensterläden auf
und schaute sich um. Er sah eine Werkbank und ein paar Truhen. Grinsend
deutete er auf eine kleine Esse.
»Hier hat er die Schlüssel
gemacht«, erklärte er und hatte mit Hammer und Meißel die
Truhen im Handumdrehen geöffnet. Darin lagen alle Werkzeuge, die ein
Schlosser benötigte: Blei- und Stahlstreifen, Gußeisen und Schlüsselrohlinge.
Cranston wühlte in einer der Truhen und förderte eine Gießform
zutage, die absichtlich zerschlagen worden war. Er gab sie Clifford.
»Wenn Ihr damit zum
Lord Regenten geht, dann werdet Ihr feststellen, daß Sturmey diese
und andere benutzt hat, um einen zweiten Satz Schlüssel herzustellen;
das ist so sicher, wie Katzen gern Milch trinken.«
»Aber für wen hat
er das gemacht?« fragte Clifford.
»Ah, das ist das Rätsel.«
Cranstons Blick fiel auf ein
kleines Buch, das tief im Dunkel der Truhe lag. Er nahm es heraus, während
Clifford in den Garten hinausging, um die Bruchstücke der Gießform
genauer zu untersuchen. Cranston blätterte in dem Buch. Erst hielt er
es für ein kleines Stundenbuch, aber dann sah er die geschickt
gezeichneten Illustrationen und schob es in seinen Ärmel. Jetzt
kannte er Master Sturmeys dunkles Geheimnis.
Clifford war aufgeregt über
den Fund, den Cranston gemacht hatte, und konnte es kaum erwarten
davonzueilen. Er überließ es Cranston und Athelstan, dem
Lehrling und der Magd zu danken.
Als sie das Haus verlassen
hatten, zeigte Cranston dem Bruder das Buch. Athelstan blätterte die
feinporigen Pergamentseiten um und pfiff leise, als er die Bilder
betrachtete, die ein geschickter Künstler gemalt hatte. Knaben und
junge Männer, nackt, wie sie zur Welt gekommen waren, in vielfältigen
Posen. Manche kämpften mit Schwertern, eine Gruppe räkelte sich
auf Brokatpolstern, und zwei übten sich im Speerwerfen. Andere Bilder
waren gewagter: junge Männer, die einander wuschen oder Umarmungen
und Küsse austauschten.
»Meister Sturmey hatte
in der Tat ein Geheimnis«, flüsterte Athelstan. »Ein
solches Buch könnte einen Mann auf den Scheiterhaufen bringen.«
Cranston tippte sich an die
Nase.
»Ich wußte, daß
ich's hatte. Komm, Athelstan.«
Er marschierte zurück
zur Cheapside, und der Bruder mußte traben, um mit dem unerwartet
eiligen Coroner Schritt zu halten. Aber wenige Schritte vor dem Haus des
Coroner hielt Leif, der Bettler, sie auf.
»Seid auf der Hut, Sir
John!« raunte er dramatisch. »Seid auf der Hut!«
»Was redest du da, du
alberner Kerl?«
»Lady Maude ist wieder
da.«
Cranstons Unterkiefer klappte
herunter. »Dann ist sie vor der Zeit zurückgekommen«, flüsterte
er. »Oh mein Gott, sie wird die verdammten Hunde sehen!«
»Sie ist in ganz
seltsamer Stimmung«, erklärte Leif mit düsterer Miene; er
hatte Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen.
»Domina Maude ist immer
in ganz seltsamer
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