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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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wurde erst vor vier
     Jahren umgebaut und nach unten erweitert. Platz ist genug. Und zu langsam arbeiten
     wir ganz gewiss nicht. Nicht da liegt die Sache im Argen, Herr Smirnow. Sondern dass
     in unserem Staat, der immer mehr blüht und gedeiht, die Kriminalität davon leider
     nicht abnimmt. Im Gegenteil, sie nimmt zu. Und wissen Sie, warum?«
    Der Untersuchungsgefangene schüttelte stumm den gelockten
     Kopf.
    »Sie entsinnen sich der Osterbotschaft unseres Gossudaren
     an sein Volk?«
    »Jaja, natürlich.«
    Der Untersuchungsrichter kehrte zum Tisch zurück, fand auf
     seinem Faustkeil die Rede des Gossudaren und rief sie als Hologramm auf. In der
     Zelle erschien des Gossudaren leibhaftiges Antlitz.
    »Kaum war Russland dem Sog der Roten Wirren entronnen«,
     sprach der Gossudar zu seinem Volk, »kaum aus dem Nebel der Weißen Wirren
     hervorgetaucht, kaum hatte es sich von den Knien erhoben, gelernt, das äußere Fremde
     sich vom Halse zu halten wie auch den innerenSchweinehund – schon
     kamen die Feinde Russlands, äußere und innere, aus den Ritzen gekrochen und wollten
     unserer Heimat an den Kragen. Denn eine große Idee gebiert einen gewaltigen
     Widerstand. Und während sich die äußeren Feinde im ohnmächtigen Zorn am Granit
     unserer Großen Russischen Mauer die Zähne ausbeißen, verspritzen Russlands inwendige
     Feinde heimlich ihr Gift …«
    Sewastjanow schaltete das Hologramm ab.
    »Ist Ihnen das erinnerlich, Herr Smirnow?«
    Der Untersuchungsgefangene nickte.
    »Russlands inwendige Feinde verspritzen heimlich ihr
     Gift«, wiederholte der Richter. »Da haben Sie die Antwort auf Ihre Frage, Herr
     Smirnow: warum wir Sie verhaften mussten.«
    »Ich bin kein Feind Russlands.«
    »Kein Feind Russlands? Ja, was dachten denn Sie, wer Sie
     sind?«
    »Ich … ich bin ein Bürger Russlands. Ein getreuer Untertan
     des Gossudaren.«
    »Sie behaupten, Russlands Freund zu sein?«
    »Ich bin ein Bürger Russlands.«
    »Bürger, Bürger, was soll das Gerede … Bürger sind wir
     alle. Auch ein Mörder ist Bürger von Russland. Auch ein Übeltäter. Ich frage Sie:
     Sind Sie Russlands Freund oder Feind?«
    »Ich bin Russlands Freund.«
    »Ganz sicher?«
    »Ganz sicher«, nickte Smirnow. Leckte sich die trockenen
     Lippen, zog den Kopf zwischen die mageren Schultern.
    »Das ist fein«, sagte Sewastjanow, blätterte in Smirnows
     Akte und zog einen Text hervor, den er vergrößerte und rot unterlegte.
    In der Zelle schwebte ein Block aus roten Schriftzeilen.
    »Erkennen Sie es wieder?«, fragte der Richter.
    Smirnow, blinzelnd: »Nein … Ich sehe schlecht.«
    Er senkte den Kopf.
    »Ihnen kann geholfen werden.«
    Der Untersuchungsrichter setzte sich an den Tisch und
     begann mit gleichmäßig lauter Stimme vorzulesen:
    DER SCHÜRHAKEN
    Ein russisches Volksmärchen
    Es war einmal ein Schürhaken. Der schürte im Ofen die Kohlen, kratzte
     die Asche heraus, richtete die Scheite, wenn sie nicht gleichmäßig brannten. Viel
     Kohle hatte er schon geschürt, viel Asche herausgekratzt. Und er war es leid, nächst
     dem Ofen sein Leben zu fristen, in glühenden Kohlen zu wühlen war ihm zuwider, graue
     Asche zu kratzen ödete ihn an. Und der Schürhaken beschloss, das Haus in aller
     Heimlichkeit zu verlassen, um sich eine Arbeit zu suchen, die leichter, sauberer und
     angenehmer war. Als der Ofen am Abend wieder brannte, rührte der Haken ein letztes
     Mal in den Kohlen, kratzte die Asche aus dem Loch. Dann lief er schnurstracks auf
     und davon. Verbrachte die Nacht zwischen Brennnesseln und ging am nächsten Morgen
     auf Wanderschaft. Ging fürbass und schaute sich um. Da sah er den Koch auf sich
     zukommen.
    »Grüß dich, Schürhaken.«
    »Grüß dich, Mensch.«
    »Wohin des Weges?«
    »Ich bin auf Arbeitssuche.«
    »Dann komm doch zu mir.«
    »Was muss ich bei dir tun?«
    »Die Kohlen unter den Kesseln und Pfannen hin und her schieben, das
     Feuer versehen, damit der Braten nicht anbrennt und die Suppe nicht verkocht, den
     Ofen nach dem Piroggenbacken auskratzen …«
    »Ach nein, das ist nichts für mich. Ich tät doch gern was Leichteres
     finden, was Sauberes und Angenehmeres.«
    »Na, dann mach’s gut, Schürhaken.«
    »Mach’s gut, Mensch.«
    Der Schürhaken ging seiner Wege. Da sah er den Stahlkocher auf sich
     zukommen.
    »Grüß dich, Schürhaken.«
    »Grüß dich, Mensch.«
    »Wohin des Weges?«
    »Ich bin auf Arbeitssuche.«
    »Dann komm doch zu mir.«
    »Was muss ich bei dir

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