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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Sergeant verließ die Zelle und verriegelte sie von
     außen. Sewastjanow ging zu dem kleinen Metalltisch mit seitlich ausziehbarer Platte,
     auf der er die »goldene Gans« abstellte. Er nahm auf dem Stuhl daneben Platz, zog
     den Faustkeil aus der Tasche, eine Schachtel Rodina und ein Feuerzeug, legte alles
     auf den Tisch. Der Untersuchungsgefangene saß auf einem besonderen Stuhl aus Stahl,
     der im Betonboden verankert war und anstelle der Lehne ein mannshohes U-Profil
     hatte. Die Arme waren nach hinten um den Träger gezogen und mit weichen Handschellen
     gefesselt. Der Untersuchungsgefangene Smirnow war ein schlaksiger Mann mit
     Haltungsschwäche, achtundzwanzigjährig, lockiges dunkelblondes Haar, schmales
     Gesicht mit wucherndem Bart und großen grauen Augen.Die Arme um
     die Lehne, saß er da und blickte auf seine Knie.
    Sewastjanow riss die Schachtel Rodina auf, zog eine
     Zigarette heraus und zündete sie an. Per Faustkeil orderte er den Zugangsfunken. Auf
     der Tischplatte öffnete sich ein Rechteck, die Tastatur einer schlauen Maschine fuhr
     heraus. Sewastjanow nahm sie in Betrieb. Über dem Tisch erschien ein Hologramm:

    Akte No. 129/200

    Das war der Vorgang Smirnow. Rauchend, die Asche auf den
     Zellenboden stippend, blätterte Sewastjanow in den durchscheinenden Seiten.
     Schließlich drückte er die Zigarette am Tischrand aus und warf sie zu Boden,
     verschränkte die Hände und sah den Untersuchungsgefangenen lächelnd an.
    »Guten Tag, Herr Smirnow.«
    »Guten Tag«, antwortete Smirnow, den Blick hebend.
    »Wie geht es Ihnen?«
    »Danke, geht so.«
    »Gibt es Klagen bezüglich der Haftbedingungen?«
    Smirnow schaute zur Seite und überlegte.
    »Aus welchem Grund sitze ich ein?«, fragte er.
    Der Untersuchungsrichter seufzte und ließ einen Moment
     vergehen, bevor er sagte: »Herr Smirnow, ich hatte Ihnen eine Frage gestellt. Geben
     die Haftbedingungen irgendeinen Grund zum Klagen?«
    »Die Zelle ist überfüllt. Höchlichst!«, nuschelte der
     Gefangene, ohne aufzuschauen.
    »Ach ja?« Sewastjanows buschige schwarze Brauen ruckten
     nach oben.
    »Ja. Es gibt zwölf Betten, aber achtzehn Mann sitzen ein.
     Wir schlafen abwechselnd.«
    »Heißt das, Sie haben nicht gut geschlafen?«
    »Letzte Nacht ging es. Aber die davor … überhaupt nicht.«
    »Verstehe«, sagte Sewastjanow und nickte versonnen. »In
     Ihrer Zelle sind also zu viele Gefangene, sagen Sie …«
    »Ja.«
    Der Untersuchungsrichter drehte sein schmales
     Laserfeuerzeug in den Händen und sagte erst einmal nichts. Schließlich fragte er:
     »Und was meinen Sie, woran es liegt, dass Ihre Zelle überbelegt ist?«
    »Es ist ja nicht nur unsere. Die anderen auch. Gestern
     schickten sie zwei zu uns rein, die waren vorher jeder woanders. Da schlafen sie
     genauso in Schichten. Alle Zellen wären überfüllt, sagt Lebedinski.«
    »Ach, sagen Sie bloß?«, fragte Sewastjanow verwundert und
     stand auf. »Alle überfüllt, sagen Sie?«
    »Jawohl.« Der Gefangene nickte, den Blick zu Boden
     gerichtet.
    Der Untersuchungsrichter trat, die Hände auf den Rücken
     gelegt, vor ihn hin und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, dann machte er
     harsch kehrt, ging zur Tür und stellte sich dicht davor.
    »Nun sagen Sie mir doch mal, Herr Smirnow, was glauben
     Sie: Warum sind in der Lubjanka alle Zellen überfüllt?«, fragte er, auf den Absätzen
     seiner tadellos gewienerten Stiefel wippend.
    »Weiß ich nicht«, beeilte sich der Untersuchungsgefangene
     zu antworten.
    »Und Sie haben nicht den geringsten Verdacht?«
    »Warum bin ich verhaftet worden? Warum darf ich nicht zu
     Hause anrufen?«
    Sewastjanow fuhr herum.
    »Mein lieber Herr Smirnow, dafür bin ich hier, um Ihnen zu
     erklären, warum wir Sie verhaftet haben. DieseErklärung liefere
     ich Ihnen, verlassen Sie sich darauf. Nur – Sie beantworten mir nicht einmal die
     allerharmloseste Frage: Warum sind, Ihrer Meinung nach, die Zellen der Lubjanka
     überfüllt?«
    »Weiß ich doch nicht … wahrscheinlich sind zu wenig Zellen
     da oder zu viele Häftlinge oder … was weiß ich …«
    »Ha!« Der Zeigefinger des Untersuchungsrichters fuhr in
     die Höhe. »Richtig. Es sind zu viele Häftlinge. Und warum, wenn man fragen darf?«
    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich kommen die Richter nicht
     hinterher … oder arbeiten zu langsam … zu wenig freie Zellen … das Gefängnis ist alt
     …«
    Der Untersuchungsrichter schüttelte den Kopf.
    »Da irren Sie sich. Das Gefängnis

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