Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
nicht mehr nur Öl-, sondern auch Benzinprobleme hatte.
    Zurück in seinem Arbeitszimmer, rief er Hauptmann
     Schmulewitsch an, der kam herüber, und bis 17.44 Uhr saßen Sewastjanow und
     Schmulewitsch, dieser näselnde, glatzköpfige Langweiler, nun beieinander und
     besprachen den leidigen Fall mit der Kuh. Vor sechzehn Monaten waren in Moskau sechs
     Mitglieder einer mystischen antirussischenSekte mit Namen Jaroswet verhaftet worden. Sie hatten die
     Umrisse Russlands auf eine weiße Kuh übertragen und an ihr ein magisches Ritual
     vollführt, bei dem sie den Tierkörper zerlegten, die Einzelteile in die entlegensten
     Gebiete des Russländischen Staates transportierten und Ausländer damit verköstigten.
     Die Keulen zum Beispiel wurden in den Fernen Osten verbracht, daselbst gesotten und
     Umsiedlern aus Japan zu essen gegeben, die Bauchlappen nach Barnaul geliefert, zu
     Pelmeni verknetet und den Chinesen kredenzt, die Brust kam an eine Borschtschsuppe
     und auf die Teller von achtzehn kleinrussischen Kleinhändlern in Belgorod,
     weißrussischen Tagelöhnern in Roslawl wurden Klopse aus dem Fleisch der Vorderhaxen
     gerollt, und der Kopf ward zu Sülze gekocht, die aßen drei estnische Mütterlein
     unweit von Pskow. Die sechs Sektenmitglieder hatte man festgesetzt und verhört, sie
     waren geständig, nannten Verbindungsmänner und Helfershelfer, doch an der Sache
     blieb ein dunkler Fleck: das Gekröse. Es hatte beim magischen Ritual von Russlands
     »Zerlegung« eine wichtige Rolle gespielt. Doch so unglaublich es erschien: Därme,
     Pansen, Herz, Nieren und Lungen waren spurlos verschwunden. Keine noch so
     ausgeklügelte Folter hatte Licht in die Sache gebracht. Die sechs hatten tatsächlich
     keine Ahnung, wohin und von wem zu welchen Zwecken das Gekröse der zerlegten Kuh
     verbracht worden war, so viel war klar. Hauptmann Schmulewitsch, der die
     Ermittlungen in dieser Sache leitete, wusste es auch lange nicht – bis zu dem Tag,
     an dem dank eines aufmerksamen Nachbarn ein Büchernarr, Münz-, Antiquitäten- und
     Briefmarkensammler aus Sankt Petrograd inhaftiert werden konnte, der in seinem
     Laden, von Marken, Büchern und sonstigem Klimbim abgesehen, fremdländischen
     Touristen Konserven feilbot, die, wie sich bei näherer Betrachtungherausstellte, Rinderpastete enthielten – im Keller seines Hauses gewerblich
     produziert, amateurhaft verschlossen und versiegelt. An allen Büchsen klebte das
     gleiche Etikett: Rinderpastete »Weiße Kuh«. Wobei die Konserven nicht etwa verkauft, sondern als »kleines Dankeschön für den
     Einkauf« verschenkt wurden. Binnen achtunddreißig Tagen hatten die Gehilfen des
     Bücherfreunds so neunundfünfzig Büchsen Pastete hergestellt und an Ausländer
     verteilt – genauer gesagt, ausschließlich an westliche Touristen, nicht an Chinesen
     und sonstige Asiaten. Nach achtzehnstündigem Verhör gab der Bücherwurm zu, die Order
     zur Herstellung und Verbreitung der Weißen
     Kuh von einem getauften Juden bekommen zu haben, der darauf spurlos
     verschwand und wenig später tot – erdolcht, mit abgehackten Fingern, ausgeschlagenen
     Zähnen und ausgestochenen Augen – in der Sankt Petrograder Kloake aufgefunden wurde.
     Haussuchungen bei dem Ermordeten wie auch Befragungen seiner Angehörigen hatten
     ergeben, dass der Mann – ebenso wie der Bücherliebhaber – nie etwas von einer
     Geheimgesellschaft Jaroswet gehört oder
     gesehen hatte und von den Petrograder Sektenmitgliedern nur als Mittelsmann
     missbraucht worden war. Drei Monate Fahndung hatten nichts weiter erbracht, als
     einen Hehler dingfest zu machen, der beim Verhör auf eine alte Bürgerliche, einen
     saisonweise tätigen Eisbrecher, einen Bänkelsänger, der auch jonglierte und Gewichte
     stemmte, einen Netzmeister sowie einen Wächter im Zoologischen Garten verwies –
     Leute also, die ihrer Abkunft, ihrem Beruf und ihrer Weltanschauung nach kaum
     unterschiedlicher sein konnten, was die von Schmulewitsch geführte Ermittlergruppe
     viel Zeit und Kraft raubte. Schmulewitsch, der zwar nicht der Klügste, aber zäh und
     mit Sitzfleisch begabt war, hatte bei der Arbeit mit besagten fünf Inhaftierten zwei
     wichtigeUmstände ans Licht gebracht: Alle pflegten sie dasselbe
     Badehaus zu besuchen, und alle nutzten sie denselben Fernsprechdienst: Alkonost. Befragungen der Badehäusler wie
     auch der Angestellten bei Alkonost hatten
     jedoch keine neuen Erkenntnisse gebracht. So war der Vorgang

Weitere Kostenlose Bücher