Der Zuckerkreml
Weiße Kuh an einem toten Punkt angelangt –
von dem loszukommen Schmulewitsch nun bei Sewastjanow erschienen war. Letzterer,
nach einiger Überlegung und Lektüre dreier Zweige der ausufernden Angelegenheit, beschloss, sich auf das Wesentliche zu
konzentrieren, nämlich die Gedärme; Pansen und Pastetenbüchsen interessierten ihn
erst einmal nicht … Bis zum Einbruch der Dunkelheit beratschlagten Schmulewitsch und
Sewastianow über die Gedärme.
Als die Flüssiguhr im Arbeitszimmer 18:00 anzeigte, stand
Sewastjanow hinter seinem Schreibtisch auf, reckte sich und gähnte.
»Also, Witja, wie gesagt: Suchen muss man in Moskau. Das
zum Ersten. Und suchen muss man die Gedärme. Das zum Zweiten.«
»Alles klar«, nickte Schmulewitsch und erhob sich
ebenfalls. »Und suchen muss man bei den Buchhändlern.«
»Suchen muss man bei den Buchhändlern, ganz genau!«,
bekräftigte Sewastjanow in belehrendem Ton. »Dann erst mal tschüss. Wir machen
morgen an der Stelle weiter.«
Sie schüttelten sich die Hand, und Schmulewitsch ging.
Sewastjanow versetzte die schlaue Maschine in den Schlaf,
leerte den randvollen Aschenbecher in den Papierkorb, holte den schwarzen Mantel aus
dem Schrank, den blauen Schal und die Uniformpelzmütze, zog sich an, klemmte den
Faustkeil in den Gurt und verließ das Arbeitszimmer.
Auf der Lubjanskaja Ploschtschad war es dunkel, nasskalt und
matschig. Der erste nasse Schnee fiel.
Zweiundzwanzigster Oktober, ein bisschen früh!, dachte
Sewastjanow, auf sein Auto zugehend. Er legte die flache Hand an die Tür, es piepte,
und sie ging auf. Er wollte die Handschuhe aus der linken Jackentasche ziehen,
ertastete an ihrer Stelle ein geknäultes Papier. Zog es hervor, faltete es
auseinander – und musste lächeln: Im blauen Notizpapier lag ein kleiner zweiköpfiger
Adler aus Zucker, der von einem Turm des Kremls stammte, den seine Tochter zu
Weihnachten auf dem Roten Platz bekommen hatte. Nach alter Familiensitte pflegte sie
diese Doppelkopfadler von den Turmspitzen abzubrechen und Papa zu verehren. Sieben
Stück! Der hier, der letzte, befand sich noch vom letzten Winter in der Tasche
seines Mantels. Sewastjanow sah vor sich die weiß-rosa Schleifen an den kurzen
Zöpfen des Töchterleins, ihr spitzes Vogelschnabelnäschen, die munteren schwarzen
Äuglein. Er legte sich den Adler auf die Zunge, dann holte er die feinen
Lederhandschuhe aus der rechten Manteltasche, stieg ein, ließ den Motor an und
lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Straße. In gemächlichem Tempo fuhr er durch
das abendliche Moskau.
Tja. Es wird wohl Winter, dachte er, den Adler lutschend.
»Was möchten Sie hören, Herr Sewastjanow?«, fragte das
Auto. »Irgendwas Altertümliches, fürs Herz«, erwiderte Sewastjanow, der mit den
Gedanken woanders war.
Drei Sekunden brauchte das Auto, um zu entscheiden – dann
schlich sich Orchesterklang in sein Ohr, und ein seit Kindestagen vertrauter Bariton
hob zu singen an:
Wenn Russland nachts entschlafen ist,
Dann schläft doch nicht dann schläft doch nicht
Der allzeit wachsame Tschekist.
Er führt den unsichtbaren Krieg,
Er führt ihn unbeirrt zum Sieg,
Für gute Arbeit, sichren Hort,
Er führt das Werk der Väter fort,
Der Äcker Ruh, der Herden Trieb,
Der Mutter und dem Kind zulieb.
So Stund um Stund zieht er hinaus
Für Dich und mich und unser Haus …
Das war ein bekanntes Lied, ein ferner Gruß aus dem Jahr
2008, als Kolja Sewastjanow, der nach erfolgreichem Abschluss der Oberschule No. 120
sein Wirtschaftsstudium an der Moskauer Universität aufgenommen hatte, noch Metro
fuhr und Sammeltaxis benutzte; im ersten Studienjahr hatte er noch Dreadlocks
gehabt, sich dann den Schädel kahl rasiert und extrem weite Hosen getragen; war mit
Sonja auf der Datscha ihrer Eltern in Krekschino ins Bett gegangen, hatte Jelisarow
und Beigbeder gelesen, Marc Ribot und Gogol Bordello gehört, Gras geraucht und Bier
– Arsenalnoje! – getrunken, Wyrypajew im Theater und Almodovar im Kino geguckt,
Volleyball gespielt und Mortal Combat, sich einmal pro Monat mit Olesja den
Nachtklub V-2 geleistet …
Er wohnte damals noch auf dem Prospekt Wernadskogo bei der
Mutter, die Eltern waren geschieden, sie arbeitete als Buchhalterin im Möbelladen Schatura, der Vater hatte eine neue
Frau, die so alt war wie Kolja, und ließ der Mutter und ihm 1500 Dollar monatlich
zukommen, die abergläubische Mutter legte
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