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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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Koffer mit einer fensterähnlichen Klappe. Zusätzlich gab es beim Kauf noch eine Blumenampel, die man sich wahlweise mit einem Farn oder einer kleinen Palme aussuchte. Das Ganze für nur 35 Euro: Fast geschenkt, allein das Besteck kostete schon so viel.

Clara erreichte die Einkaufsmeile ihrer Stadt. Hier gab es alles zu erwerben, was man sich so vorstellte: Klamotten, Geschirr, Malerei, Wäsche, Elektronikkrams, Spiele, DVDs und allerlei Feierabend-Newage-Wellness-Zeugs.
Normalerweise gehörte diese Straße zu den schönsten Einkaufsgegenden, vor allem, weil einst viele Bäume die Allee verzierten. Jetzt wuchsen hier Straßenschilder und Reklametafeln. Eine ansteckende Baumkrankheit hatte sie befallen; mussten sofort gefällt werden, im Sommer blühten sie sowieso nicht mehr. Dafür gab es jede Menge Parkbänke, aus Holz, Metall und Plastik. Tagsüber saßen hier viele Rentner, einige von ihnen bettelten, andere spielten auf ihren Musikinstrumenten, andere versuchten sich mit Schauspiel und Pantomime. Einer von ihnen wurde sogar berühmt, man nannte ihn den „Puppenspieler“. An der großen Kreuzung zwischen Apotheke und Elektronik-Shop baute er täglich sein kleines Marionettentheater auf. Er besaß nur drei Spielfiguren, mit denen er aber die gesamte shakespearesche Bandbreite darstellte. Er führte Macbeth auf, Hamlet sowieso, Romeo und Julia und wenn er in entsprechender Laune war, gab es sogar King Lear oder den Sommernachtstraum. Trotzdem wurden seine Zuschauer immer weniger. Die Neuen Alten, wie sie genannt wurden, wollten frische Werke, die berührten. Aufgewachsen zwischen Rolling Stones und David Bowie kannten sie die Welt als Unterhaltungsort, hier gab es nur Platz für Neues. Alles war neu, denn neu bedeutete immer gut Deshalb verlangten sie nach neuem Spaß, neuem Sport und neuer Kultur. Doch für diese nimmersatten Menschen fand sich irgendwann kein Platz mehr in der Gesellschaft. Die Zeit der Bescheidenheit setzte sich durch. Und die „Neuen Jungen“ lebten anders. Familien wurden etwas sehr Wertvolles, man ging nicht auseinander oder suchte sich eine eigene Wohnung. Alles geschah in der Familie, wurde dort diskutiert und vom Familienoberhaupt entschieden. Die Jungen nannten das „die neue Enthaltsamkeit“. Um das Gemeinwohl zu stärken Man verzichtete zu Gunsten der Familie auf sein Privatleben. Nach ihrer Meinung trugen schließlich egoistische Individuen die Schuld an der Rentenmisere und der unsozialen Gesellschaft. Und diese Einstellung teilten viele. Aus diesem Grund straften sie die Rentner mit Verachtung und Hass, die gestrandeten Individualisten des 20. Jahrhunderts, ein Überbleibsel einer verlorenen Gesellschaft, eine Krankheit der übertriebenen Marktwirtschaft – die Neuen Alten.
Als Clara ihre Wohnung erreichte, überzog ein dunkler Wolkenschleier den Himmel und kündigte die Nacht an. In der Ferne warfen sich die Bäume im Wind hin und her. Ein einzelnes Licht blinkte im Dunkeln, vermutlich ein Flugzeug.

Der Aufzug fuhr in den fünften Stock, lautlos, keine Nachbarn, nicht einmal das gewohnte Brummen der Leuchtstoffröhren. Auch ihre Wohnung passte sich diesem Schweigegelübde an. Fast schon unheimlich. Vielleicht war Svend schon fertig und Maximilian längst geflüchtet. Vielleicht hatte es einen Stromschlag gegeben und beide lagen nun tot in ihrer Wohnung. Oder Maximilian war zusammen gebrochen. Svend musste ihn ins Krankenhaus fahren. Oder …
Endlich hörte Clara etwas. Ein, zwei Männerstimmen, sie drangen aus ihrer Wohnung. Sofort schloss sie auf. Kurz darauf stand sie ihren Besuchern gegenüber. Maximilian und Svend saßen breitbeinig auf dem Sofa und streckten ihre Bäuche empor. Sie tranken Bier, Pizza lag auf dem Tisch, das Loch in der Wand existierte nicht mehr und selbst vom Dreck keine Spur.
„Was ist hier los?“
„Prächtig!“, rief Maximilian, kletterte vom Sofa hoch und rannte zur Handwerksstelle, um Clara etwas zu zeigen. „Er ist schon fertig. Zuerst sah das ja so aus, als würde er eine ganze Woche brauchen, aber nichts. Der Mann ist ein Zauberer, schon fertig. Und nebenbei: Wir haben uns klasse unterhalten. Du solltest ihn mal einladen –“
Clara brauchte nicht lange, nach Worten zu suchen. Sie packte Svend am Arm und schleifte ihn hinter sich her, bis sie ihr Zimmer erreichten. Sofort schloss sie die Tür.
„Was soll das?“, flüsterte sie. „Du solltest doch Lärm und Schmutz machen, und jetzt?“
„Ich konnte nicht.“
„Was? Du konntest

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