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Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Der zugeteilte Rentner (German Edition)

Titel: Der zugeteilte Rentner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Schulte
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Weg.

Manchmal ging man einen Schritt zurück, um aus der Ferne eine bessere Übersicht zu gewinnen, Klarheit schaffen, den Kopf wieder freibekommen von all den Ängsten und Zwängen, die sich mit der Zeit im Großhirn ansammelten. Man konnte Yoga ausüben und eins mit der Natur werden, eine neue Religion ausprobieren oder stundenlange Gespräche mit einem Therapeuten führen. Doch Clara kannte das alles. Sie ging weiter zurück, dort wo jedes Problem seinen Anfang hatte: zu Hause.
Natürlich gab es das „Zuhause“ nicht mehr. Dort, wo sie früher gelebt hatte, stand nun das fünfstöckige Parkhaus eines Kino-Komplexes. Einmal parkte sie hier zu lange, dafür zahlte sie fünfzig Euro Überziehungsgebühr. Es interessierte niemanden, dass an der Stelle an der ihr Auto gestanden hatte, einst ihr Kinderzimmer war.
Doch ihr früheres Zuhause wanderte ständig, es zog immer mit ihrer Mutter und ihren Halbgeschwistern mit. Ihr neues Zuhause befand sich außerhalb der Stadt, unten am Fluss, dort, wo sie jedes Wochenende die Autos anzündeten, zumindest war das die letzte Adresse, die ihre Mutter ihr genannt hatte – Chaussee 127.
Das Viertel rühmte sich einst seiner Schönheit: große Wiesen, kleine Parks, ein paar Dichterstatuen und ein Kulturzentrum, das „Spielplatz“ hieß. Jetzt sah es anders aus: abgestorbene Bäume, verschmutzte Bildnisse und über allem lag ein Dunst, als hätte der graue Star die Stadt erfasst.
Chaussee 127 – einst eine der besten Adressen der Stadt, dann kamen die quadratisch-praktischen Häuser mit ihren zehn Stockwerken. Sie wuchsen wie Unkraut aus dem Boden. Ein Jahr später verschlangen sie alle anderen Gebäude, warfen lange Schatten über die Efeu geschützten Jugendstilhäuser mit ihren Verschnörkelungen und den winzigen Balkonen. Zehn Jahre später gab es fast nur noch zehnstöckige Häuser. Chaussee 127 gehörte dazu.

Ein kleines Kind öffnete Clara die Tür. Kaum größer als ein paar Stiefel mit Absätzen.
„Wer bist du denn?“
Doch das Kleine grinste nur und warf die Tür zu. Clara klingelte noch einmal, diesmal hörte sie die tiefe Stimme einer Frau, die mit ihren Kindern sprach und diese ermahnte. Dann schlürfte sie langsam zur Tür, öffnete einen Spalt und schaute heraus.
Das alte und zerfurchte Gesicht einer Frau kam hervor – große Tränensäcke, Augen, die nirgendwohin blickten, einfach nur glasig. Die Haare erinnerten kaum mehr an den Ansatz einer Frisur, die Frau befand sich in vielleicht in den Vierzigern oder Fünfzigern. Zeit verging hier schneller als anderswo.
„Hallo, Mutter!“
„Was willst’n Du?“, keuchte sie. „Ich hab’ nix. Geh zu deinem Vadder, wenn Du was brauchst.“
„Ich will gar nichts. Ich möchte nur reden.“
Clara lächelte ihre Mutter an, doch ihr missfiel das. Niemand wollte mit ihr reden, weder die Männer mit denen sie sich einließ, noch der Hausmeister oder der vom Sozialamt. Sie gehörte nicht zu den Personen mit denen man sprach, eher zu den Leuten, denen man aus dem Weg ging.
„Kann ich reinkommen?“
„Hab nicht aufgeräumt.“
„Das macht nichts.“
Sie zögerte, dachte nach.
„Dann komm rein.“
Ihre Mutter ging zur Seite. Ein schmaler Korridor führte ins Wohnzimmer, gelb-graue Blumen verzierten die Tapeten, im Gang sammelte sich der Geruch eines Raucherabteils; zu dick zum Atmen.
Am Wohnzimmertisch saßen zwei Kinder, ein Junge, 11 und ein Mädchen, 8. Das Kind, das ihr zuerst die Tür geöffnet hatte, lag jetzt vor dem Fernseher und schaute sich ein Zeichentrickprogramm an – irgendwas mit fliegenden japanischen Superhelden.
„Willst du was trinken?“
„Einen Kaffee?“
Ihre Mutter nahm aus dem Schrank ein verstaubtes Glas, pustete einmal rein, dann musste sie husten.
Die Worte wollten nicht so einfach aus ihr heraus.
„Hab hier noch so’n Kaffee zum Anrühren, wenn du das magst.“
„Ja, ist o.k.!“
Clara zog ihre Jacke aus. Zuerst wollte sie sich auf einen Stuhl setzen, doch Flecken überzogen das Kissen. Mindestens so alt wie das jüngste Kind. Besser, sie setzte sich auf die Couch.
Ihre Mutter ging in die Küche und setzte währenddessen heißes Wasser auf. Die beiden Kinder am Tisch beobachteten Clara, Lars und Nike – ihre Halbgeschwister. Das vor dem Fernseher musste Benjamin sein, ebenfalls ein Halbbruder. Jedes der drei Kinder stammte von einem anderen Mann.
„Willst’e Milch?“
„Ne, danke!“
„Ist wahrscheinlich eh schlecht!“
Ihre Mutter stellte sich in den Raum, nahm die Fernbedienung

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