Der zugeteilte Rentner (German Edition)
und zappte durch die Sender. Dabei hielt sie sich mit einer Hand den Rücken und stöhnte.
„Nix Gescheites heut drin.“
Die Kinder wurden daraufhin unruhig und stimmten ein gemeinsames Nörgeln an, ähnlich einem tibetanischen Betgesang.
„Willst du was gucken?“
Die Kleinen sahen Clara an, ein finsterer Blick, der ihr unmissverständlich andeutete, dass sie das Angebot besser ablehnte.
„Ne, danke!“
„Ich will Tinjao sehen!“, grölte Benjamin, schnappte sich die Fernbedienung und schaltete um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Zeichentrickheld mit seinem Feuerschwert das Monster Tanaka erlegte. Sofort stellte er den Ton lauter.
DEINE TAGE SIND GEZÄHLT, TANAKA!
Dann ging ihre Mutter in die Küche zurück, goss das heiße Wasser in die Tasse, rührte einmal um und brachte es Clara. Heißer Dampf stieg empor, doch der typische Kaffeegeruch fehlte, einfach nur braunes heißes Wasser. Zuerst zögerte Clara. Schmutzränder verzierten die Tasse, der Henkel war abgebrochen. Die Bakterien lauerten überall. Doch ihre Mutter sah sie so fragend an, dass sie gar nicht ablehnen konnte. Für diese Frau gab es keinen Schmutz, keine Bazillen. Sie verstand die Reaktion ihrer Tochter nicht.
Clara lächelte und griff nach dem Kaffee.
„Und was machst du so?“, meinte ihre Mutter und tätschelte kurz den Oberschenkel ihrer Tochter. Doch diese liebevoll gemeinte Geste wirkte so falsch, so mechanisch, so steif. Als sich ihre Mutter darüber bewusst wurde, sah sie Clara an, als wäre sie bei einem Verbrechen ertappt worden.
„Ich studiere noch“, beschleunigte Clara ihre Worte, um die Situation zu retten. „Medizin!“
OH, NEIN. ES HAT DEN SHI-VERTEIDIGUNGSRING.
Ihre Mutter zeigte keine Reaktion, als wartete sie noch auf eine Antwort, dann drehte sie sich zum Fernseher und gab dabei ein brummendes und undeutliches „Aha“ von sich.
„Tanjao! Gib’s ihm!“, kreischte Benjamin und machte ähnliche Bewegungen wie sein Zeichentrickheld, nur konnte dieser fliegen.
ALLE MACHT DEM FEUER. GREIFT AN.
„Ich wollte auch mal studieren“, keuchte ihre Mutter und griff nach der Fernbedienung, um den Fernseher etwas leiser zu stellen. „Kunst!“
Für einen Augenblick hörte sie die Stimme ihrer Mutter, so wie sie immer geklungen hatte. Das Funkeln in ihren Augen, das Schmunzeln um ihre Lippen – im gleichen Moment verschwand es. Es schien fast so, als würde die alte Frau mit den letzten Worten einschlafen, nur ein undeutliches „Aber du kennst ja deinen Vadder“ kroch durch ihre Atemwege nach oben.
Ihre Mutter wusste, was ihr entgangen war. Sie wollte immer raus aus ihrem früheren Leben, es endlich packen, es allen zeigen. Zu Clara sagte sie immer: „Du musst immer an dich glauben, dann schaffst du es auch, Prinzessin!“ Doch das war jetzt vergessen. Ihre Mutter befand sich wieder am Ausgangspunkt des Lebens – schlimmer war nur, das noch zu wissen.
„Was machst du so?“, sagte Clara und nahm den Kaffee in die Hand – doch die ermunternde frische Brise blieb aus, nur heißer Wasserdunst stieg nach oben.
„Was?“
„Was du so machst?“
Natürlich wussten beide, dass es sich nur um eine Höflichkeitsfrage handelte und so zuckte die alte Frau mit den Schultern und seufzte einmal lang. Als Antwort genügte das.
„Was wollt’ste überhaupt von mir?“
Diese Frage hatte sich Clara noch gar nicht gestellt. Sie suchte eigentlich das Zuhause-Gefühl – ein wohliges, angenehmes Kribbeln im ganzen Körper, wenn sie daran dachte, wie sie als kleines Kind auf den Spielplatz ging und wusste, dass jeder Tag so unbeschwert sein konnte. Sie träumte davon, eine Prinzessin zu sein, eine berühmte Schriftstellerin zu werden oder einfach jeden Tag mit Nutzlosem zu vergeuden – sie lebte praktisch in einem Zeit-Raum-Kontinuum, in dem nichts passierte – wie ein langer endloser Traum, in dem sie beschützt und aufgehoben vor sich hin existierte.
Was wollte sie von ihrer Mutter? Ein nettes Wort, etwas Aufbauendes, neue Hoffnung, einen Ratschlag? Eigentlich alles. Aber ihrer Mutter ging es noch schlechter als ihr. Die Situation hatte sich gewandelt, Clara war nicht mehr die kleine Prinzessin, die Hilfe suchend zu ihrer Mutter lief, wenn Probleme anstanden. Jetzt brauchte ihre Mutter Hilfe – und das konnte sie ihr nicht geben. Sie hatte kein Geld, keine Zeit und auch keine brauchbaren Ratschläge – aber fragte ihre Mutter überhaupt danach?
„Nur mal Hallo sagen!“
Ihre Mutter sah sie an, musterte sie von oben bis
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