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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Gestern, gewiß, da gab es keinen andern Plan zu befolgen als den: den Rückzug, den sofortigen Rückzug durch den Paß vonSaint-Albert. Aber heute mußte der Weg ja doch versperrt sein, all das schwarze Ameisengewimmel von Preußen war doch dort hinten in der Ebene von Donchery versammelt. Und Torheit über Torheit, jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit für ihre verzweifelte Tapferkeit, nämlich die, die Bayern in die Maas zu werfen und über sie hinweg den Weg auf Carignan zu gewinnen.
    Weiß, der seinen Kneifer alle Augenblicke mit einer kleinen trockenen Handbewegung wieder zurechtrücken mußte, erklärte diese Sachlage dem Leutnant, der immer noch mit seinen zerbrochenen Beinen gegen die Tür gelehnt dasaß und leichenblaß gegen die Wirkung des Blutverlustes ankämpfte.
    »Herr Leutnant, ich versichere Sie, ich habe recht ... Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie nicht nachlassen. Sie sehen selbst, daß wir siegen. Noch eine Anstrengung, und wir werfen sie in die Maas!«
    Tatsächlich war soeben der zweite Angriff der Bayern zurückgeschlagen worden. Von neuem hatten die Mitrailleusen den Kirchenplatz gefegt, und Haufen Toter überdeckten im Sonnenschein sein Pflaster; aus allen Gäßchen jagte man den fliehenden Feind mit dem Bajonett in einzelnen Gruppen über die Wiesen gegen den Fluß, und ganz gewiß wäre es zu vollster Auflösung gekommen, wenn frische Truppen die schon entkräfteten und stark mitgenommenen Mariner unterstützt hätten. Auf der andern Seite im Park von Montivilliers kam das Gewehrfeuer auch nicht recht in Gang, was bewies, daß auch auf dieser Seite Verstärkungen das Holz entsetzt hatten.
    »Sagen Sie Ihren Leuten, Herr Leutnant ... Pflanzt das Bajonett auf! Pflanzt das Bajonett auf!«
    Wachsbleich hatte der Leutnant nur noch die Kraft, mitsterbender Stimme zu flüstern: »Hört ihr, Jungens, pflanzt das Bajonett auf!«
    Das war sein letzter Atemzug; er starb, das Gesicht hartnäckig geradeaus gerichtet, die offenen Augen immer noch in die Schlacht starrend. Fliegen summten schon umher und setzten sich auf die zerschmetterte Stirn Françoises, während der kleine August sie in seinem Fieberwahn vom Bett aus rief und mit leiser, flehender Stimme um etwas zu trinken bat.
    »Mutter, steh' doch auf, steh' doch auf ... Ich habe Durst, ich bin so durstig.«
    Aber der Befehl lautete ganz bestimmt, die Offiziere mußten zum Rückzug blasen lassen, wenn sie auch trostlos darüber waren, daß sie den Vorteil, den sie gerade zu erringen begannen, nicht weiter ausbeuten konnten. Augenscheinlich war General Ducrot von Furcht vor einer Umgehungsbewegung des Feindes besessen und opferte alles dem närrischen Versuch, sich seiner Umklammerung zu entziehen. Der Kirchenplatz wurde geräumt, von Gasse zu Gasse zogen die Truppen sich zurück, und bald war die Straße leer. Die Frauen fingen an zu schreien und zu seufzen, die Männer fluchten und schwenkten die Fäuste vor Zorn, als sie sich derart aufgegeben sahen. Viele schlossen sich in ihrem Hause ein mit dem Entschluß, es zu verteidigen und in ihm zu sterben.
    »Ach was! ich werde doch nicht ausreißen!« schrie Weiß. »Nein, dann lasse ich mein Fell lieber hier ... Laß sie nur kommen und meine Sachen zerschlagen und meinen Wein trinken!«
    Für ihn gab es in seiner Raserei nichts mehr als unauslöschlichen Kampfeszorn bei dem Gedanken, daß der Fremdling in sein Haus eindringen, sich in seinen Stuhl setzen, aus seinem Glase trinken könnte. Das hob ihn über sich selbst hinausund wischte sein ganzes gewöhnliches Dasein, seine Frau, sein Geschäft, seine Klugheit als kleiner, verständiger Bürger vollkommen aus. Und so schloß er sich in seinem Hause ein und verschanzte sich drinnen, rannte wie ein Tier im Käfig aus einem Zimmer ins andere, um sicher zu sein, daß alle Öffnungen gut verstopft seien. Er zählte seine Patronen nach, er hatte noch etwa vierzig. Als er dann einen letzten Blick auf die Maaswiesen werfen wollte, um sich zu vergewissern, daß von den Wiesen her kein Angriff zu befürchten sei, hielt ihn der Anblick der Höhen auf dem linken Ufer abermals einen Augenblick fest. Rauchumhüllungen zeigten ganz klar die Stellungen der preußischen Batterien an. Und oberhalb der furchtbaren Batterie von Frénois, an der Ecke eines kleinen Gehölzes auf der Marfée, fand er die Gruppe von Uniformen wieder, zahlreicher jetzt und derart im hellen Sonnenscheine funkelnd, daß, als er seinen Kneifer über die Brille setzte, er ganz deutlich das

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