Der Zusammenbruch
zerbrochenenHüften und zerschmettertem Kopf, ein über und über roter, gräßlich anzusehender Haufen Menschenfleisch.
Wütend rannte Weiß ihr zu hin. Er stotterte und konnte nur noch fluchen.
»Herrgott nochmal! Herrgott nochmal!«
Ja, sie war vollständig tot. Er beugte sich nieder und befühlte ihre Hände; und als er sich wieder aufrichtete, traf er auf das Gesicht des kleinen August, der den Kopf erhoben hatte, um nach seiner Mutter zu sehen. Er sagte nichts, er weinte nicht, er riß nur seine fiebrigen Augen unmäßig weit auf vor diesem schrecklichen Gebilde, das er nicht kannte.
»Herrgott nochmal!« schrie Weiß endlich, »jetzt morden sie schon Frauen!«
Er stand wieder aufrecht und schüttelte seine Faust gegen die Bayern, deren Helme jetzt wieder neben der Kirche zu erscheinen begannen. Und als er sah, daß das Dach seines Hauses durch den Schornstein halb eingeschlagen war, wurde er vollends wie verrückt vor Verzweiflung.
»Dreckige Schufte! Weiber bringt ihr um und mein Haus zerstört ihr! ... Nein! das geht nicht, ich kann nicht so weglaufen, ich bleibe!«
Er stürzte vorwärts und kam mit einem Satz mit dem Chassepot und der Patronentasche des getöteten Soldaten wieder. Um bei großen Gelegenheiten besonders deutlich sehen zu können, hatte er immer eine Brille bei sich, die er aus einer Art gefallsüchtigen, rührenden Schamgefühls mit Rücksicht auf seine junge Frau für gewöhnlich nicht trug. Mit sicherer Hand riß er seinen Kneifer ab und ersetzte ihn durch die Brille; und nun begann der dicke Bürger im Überzieher mit seinem gutmütigen, von Zorn entstellten Gesicht, fast komisch und doch großartig in seiner Vaterlandsliebe, in denHaufen der Bayern am Ende der Straße hineinzufeuern. Das läge ihm so im Blut, behauptete er; infolge der Erzählungen von 1814, mit denen er von Kindheit auf dort unten im Elsaß großgepäppelt war, brannte er vor Begierde, ein paar von ihnen niederzustrecken.
»Oh, die dreckigen Schufte! Diese dreckigen Schufte!« Und er schoß immerzu, so rasch, daß der Lauf seines Chassepots ihm schließlich die Finger verbrannte.
Der Angriff mußte furchtbar werden. Von den Wiesen her hatte das Gewehrfeuer aufgehört. Die Bayern hatten sich in den Besitz eines schmalen, von Weiden und Pappeln umsäumten Baches gesetzt und gingen nun daran, ihren Angriff gegen die den Kirchenplatz verteidigenden Häuser vorzutragen; ihre Schützenschwärme hatten sich vorsichtig zurückgezogen; nur die Sonne lag wie ein goldener Schleier auf der riesigen Wiesenfläche, in der die Körper ein paar gefallener Soldaten dunklere Flecken bildeten. Der Leutnant kam gerade aus dem Hofe der Färberei heraus; er hatte nur einen Posten dort gelassen, da er begriff, daß die Hauptgefahr nunmehr von der Straßenseite drohte. Rasch stellte er seine Leute an dem Fußsteige entlang auf und befahl ihnen, wenn der Feind sich des Platzes bemächtigen sollte, sich im ersten Stock des Gebäudes zu verschanzen und sich dort bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Auf der Erde liegend, hinter sich den Prellstein deckend und die kleinsten Erhöhungen ausnützend, schossen die Leute ganz selbständig; und über den breiten, sonnenüberströmten verlassenen Weg fegte ein bleierner Orkan zwischen Rauchstreifen hin wie ein von stärker Brise gejagter Hagelschauer. Da sah man ein junges Mädchen in kopflosem Rennen über den Weg laufen, ohne getroffen zu werden. Dann erhielt ein alter Mann, ein in seine Bluse gekleideterBauer, der unbedingt sein Pferd in den Stall bringen wollte, eine Kugel mitten in die Stirn, und zwar mit solcher Gewalt, daß er bis mitten auf die Straße geschleudert wurde. Nun wurde das Kirchendach durch einen Granattreffer abgedeckt. Zwei andere setzten ein paar Häuser in Brand, die unter dem Krachen ihres Gebälkes in hellen Flammen aufgingen. Und die arme, neben ihrem kranken Kinde zerschmetterte Françoise, der Bauer mit seiner Kugel im Schädel, die Zerstörungen dieser Brände brachten die paar Einwohner, die lieber hier sterben als sich nach Belgien retten wollten, vollends außer sich. Bürger, Arbeiter, Leute im Überzieher und im Bauernkittel schossen wie verrückt aus den Fenstern.
»Oh, die Banditen!« schrie Weiß, »sie haben uns umgangen ... Ich habe es wohl gemerkt, wie sie sich an der Bahn entlang schlichen ... Halt! sehen Sie sie da hinten links?«
Tatsächlich brach jetzt Gewehrfeuer hinter dem Park von Montivilliers los, dessen Bäume bis an die Straße
Weitere Kostenlose Bücher