Der Zusammenbruch
die Luft war so mit Feuchtigkeit durchtränkt, daß die fröhlichen Klänge erstickten. Und die Mannschaften der Kompagnie, die nicht einmal mehr den Mut gehabt hatten, ihre Zelte aufzuschlagen, sondern sich in die Zeltbahnen gewickelt zum Schlafen in den Dreck gelegt hatten, wachten gar nicht auf; sie lagen mit blassen, von Ermattung und Schläfrigkeit verhärteten Gesichtszügen schon wie Leichen da. Man mußte sie einzeln aufrütteln und ihrem Nirwana entreißen; wie Auferstandene erhoben sie sich, leichenblaß, die Augen mit Schrecken vor dem Leben erfüllt.
Jean hatte Maurice geweckt.
»Was denn? Wo sind wir?«
Verstört sah er um sich und erblickte nichts als ein graues Meer, in dem die Schatten seiner Kameraden zu schwimmen schienen. Auf zwanzig Meter voraus konnte er nichts unterscheiden. Da er jede Möglichkeit verloren hatte, sich zurechtzufinden, wäre er nicht imstande gewesen zu sagen, auf welcher Seite Sedan läge. In diesem Augenblick aber schlug irgendwoher aus der Ferne Geschützdonner an sein Ohr.
»Ach ja, heute sollen wir ja fechten ... Um so besser, dann gibt's Schluß!«
Stimmen um ihn her sagten dasselbe; es lag wie eine düstere Genugtuung, wie Erlösung von einem Alpdruck in ihnen,daß sie nun endlich die Preußen sehen sollten, die sie ja suchten und vor denen sie schon soviel tödlich lange Stunden flohen! Nun sollten sie also auf sie schießen und sich endlich der Patronen entledigen, die sie von so weither geschleppt hatten, ohne eine einzige abzubrennen. Diesmal, das fühlten alle, war die Schlacht unvermeidlich.
Aber von Bazeilles her tönte das Geschütz immer lauter, und Jean horchte im Stehen.
»Wo schießen sie?«
»Wahrhaftig!« antwortete Maurice, »mir kommt's vor, als wäre es nach der Maas hinüber ... Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich 'ne Ahnung habe, wo ich bin!«
»Höre, Junge,« sagte der Korporal, »du gehst mir nicht von der Seite, denn das muß man verstehen, wenn man nicht böse eins abkriegen will ... Ich habe das ja schon gesehen und will die Augen für dich und mich offenhalten.«
Die Korporalschaft fing indessen an zu brummen, weil sie sich ärgerte, daß sie nichts Warmes in den Magen zu bringen hatte. Keine Möglichkeit, ein Feuer anzuzünden ohne trockenes Holz und bei dem Dreckwetter! In demselben Augenblick, in dem die Schlacht begann, trat die Magenfrage gebieterisch, entscheidend wieder an sie heran. Helden waren sie vielleicht, aber erst kamen ihre Bäuche. Essen war ihr einziges Bedürfnis; und mit welcher Liebe schäumten sie den Topf an den Tagen ab, wenn es schöne Suppe gab! Wie kindisch, blindwütig waren sie, wenn es mal an Brot fehlte!
»Wenn's nichts zu essen gibt, kann man nicht fechten,« erklärte Chouteau. »Gottes Donnerwetter soll mich erschlagen, wenn ich heute mein Fell dran wage!«
Der Umstürzler kam bei dem langen Teufel von Anstreicher, diesem Schwätzer vom Montmartre, wieder durch, bei demKneipengelehrten, der seine paar hier und da aufgepickten verständigen Gedanken durch die Vermischung mit den schauderhaftesten Eseleien und Lügen verdarb.
»Haben sie uns übrigens nicht mit ihren Erzählungen von den verhungerten und todkranken Preußen veralbert, die nicht mal ein Hemd auf dem Leibe hätten und die man in dreckigen Lumpen wie Bettelvolk auf den Straßen fände?« fuhr er fort.
Loubet begann als richtiger Pariser Straßenbengel, der sich mit allen möglichen kleinen Geschäften der Hallen auf den Straßen herumgetrieben hatte, zu lachen.
»Ach Quatsch! Wir hier klappen vor Elend zusammen, und man sollte lieber uns einen Sou geben, wenn wir in unsern zerplatzten Pantinen und unsern beschissenen Klatern daherkommen. ... Und dann ihre großen Siege! Reizende Spaßvögel, wahrhaftig, wenn sie uns vorerzählen, Bismarck wäre beinahe gefangen worden und ein ganzes Heer wäre in einen Steinbruch geschmissen ... Nein, die haben uns schön veralbert!«
Pache und Lapoulle hörten mit geballten Fäusten zu und nickten wütend mit dem Kopfe. Auch andere ärgerten sich, denn die Wirkung der ewigen Lügen der Tageszeitungen war endlich verhängnisvoll geworden. Jedes Zutrauen war ertötet, sie glaubten nichts mehr. Die Einbildungskraft dieser großen Kinder, die zuerst so reich an außerordentlichen Hoffnungen gewesen war, verfiel nun in ganz närrische Spukträume.
»Verflucht nochmal, das war nicht dumm!« fing Chouteau wieder an, »das ist doch klar, wir sind eben verkauft ... Das wißt ihr alle ganz
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