Der Zusammenbruch
Bewegungen drückten wütende Verzweiflung aus.
»Gehen Sie zum Teufel! Verloren sind wir ja trotzdem alle miteinander!«
Draußen fand Delaherche, daß die Schwierigkeiten, sich einen Weg durch die immer mehr zunehmenden Massen zu bahnen, noch größer geworden waren. Die Straßen füllten sich von Minute zu Minute mehr mit einer Flut zersprengter Soldaten. Er fragte mehrere Offiziere, die er traf: keiner hatte die weiße Fahne auf der Zitadelle gesehen. Ein Oberst erklärte schließlich, er habe sie gerade solange gesehen, daß sie gehißt und wieder verschwunden wäre. Das würde ja nun auch alles erklärt haben, ob nämlich die Deutschen sieüberhaupt nicht gesehen hätten oder sie nur hätten erscheinen und wieder verschwinden sehen und daraufhin ihr Feuer verdoppelt hatten, weil sie einsahen, der Todeskampf setze ein. Es lief sogar eine Geschichte um, ein General wäre beim Anblick der Fahne vor Wut verrückt geworden, er hätte sich auf sie gestürzt und die Stange zerbrochen, das Tuch zerrissen. Und die preußischen Batterien feuerten immer weiter, auf alle Dächer und Straßen regnete es Granaten, Häuser gerieten in Brand, und an einer Ecke des Turenneplatzes wurde einer Frau der Kopf zerschmettert.
Auf der Unterpräfektur traf Delaherche Rosa nicht im Schließerzimmer an. Alle Türen standen offen, die allgemeine Auflösung setzte ein. Er ging daher hinauf und stieß nur auf verstört aussehende Menschen, ohne daß irgend jemand auch nur die geringste Frage an ihn gerichtet hätte. Er traf das junge Mädchen, als er im ersten Stock stehenblieb.
»Ach, Herr Delaherche, die Geschichte wird immer schlimmer ... Hier! Sehen Sie schnell, wenn Sie den Kaiser sehen wollen.«
Wirklich stand links von ihnen eine schlecht geschlossene Tür halb offen; durch den Spalt konnte man den Kaiser sehen, der seinen taumelnden Gang zwischen Fenster und Ofen wieder aufgenommen hatte. Er trabte trotz seiner unerträglichen Schmerzen ohne anzuhalten hin und her.
Es war gerade ein Adjutant eingetreten, der die Tür schlecht zugemacht hatte, und sie konnten hören, wie der Kaiser ihn mit ganz trostloser Stimme fragte:
»Aber warum wird denn noch immer weitergefeuert, Herr, wenn ich doch die weiße Fahne habe hissen lassen?«
Seine Qualen mußten infolge des unaufhörlichen, mit jederMinute noch an Heftigkeit zunehmenden Geschützfeuers unerträglich geworden sein. Er konnte nicht mehr ans Fenster treten, ohne daß es ihm einen Schlag aufs Herz gab. Noch mehr Blut, noch mehr durch seine Mißgriffe niedergemähte Menschenleben! Jede Minute häufte ganz unnützerweise weitere Tote auf. Und bei seinem Widerwillen eines zartfühlenden Träumers hatte er schon mindestens zehnmal an jeden Eintretenden dieselbe Frage gerichtet.
»Aber warum wird denn immer weitergefeuert, trotzdem ich die weiße Fahne habe hissen lassen?«
Der Adjutant murmelte eine Antwort, die Delaherche nicht erfassen konnte. Der Kaiser war übrigens auch nicht stehengeblieben, sondern folgte dem ihn beherrschenden Drang, immer wieder ans Fenster zu treten, wo er bei dem fortdauernden Donner des Geschützfeuers jedesmal zusammenschauderte. Seine Blässe hatte noch zugenommen; sein langes, trauriges, so müdes Gesicht, von dem die Schminke des Morgens nur schlecht abgewischt war, drückte seinen wahren Todeskampf aus.
In diesem Augenblick ging ein kleiner lebhafter Mann in staubbedeckter Uniform, in dem Delaherche den General Lebrun erkannte, über den Treppenabsatz und stieß die Tür auf, ohne sich anmelden zu lassen. Und sogleich wurde die angsterfüllte Stimme des Kaisers wieder hörbar.
»Aber, Herr General! Warum wird denn noch immer geschossen, trotzdem ich die weiße Fahne habe hissen lassen?«
Der Adjutant trat heraus, die Tür wurde geschlossen und Delaherche konnte nicht einmal mehr die Antwort des Generals vernehmen. Alles war verschwunden.
»Ach!« sagte Rosa noch einmal, »es wird immer schlimmer, das sieht man den Herren an den Gesichtern an. Das ist genauwie mit meinem Tischtuch, das kriege ich auch nicht wieder zu sehen; einige behaupten sogar, es wäre zerrissen worden ... Bei all dem tut mir doch der Kaiser am meisten leid, denn er ist viel kränker als der Marschall und gehörte viel eher ins Bett als hier in dies Zimmer, wo er sich mit seinem ewigen Herumlaufen ganz kaputt macht.«
Sie war ganz gerührt; ihr niedlicher Blondkopf drückte aufrichtiges Mitleid aus. Delaherche aber, dessen bonapartistische Glut sich seit zwei Tagen
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