Der Zusammenbruch
konnte gar nicht durchkommen, er sondierte, schnitt, sägte und nähte außer sich vor Verzweiflung, wenn er sah, daß ihm immer noch mehr Arbeit herangeschleppt wurde, als er bewältigen konnte. Gilberte, die vor Schrecken ganz trunken war und von all dem Blut und Tränen beständig an Brechreizlitt, war bei ihrem Onkel, dem Oberst, geblieben und ließ Frau Delaherche allein den Fieberkranken weiter zu trinken geben und die feuchten Gesichter der Sterbenden abtrocknen.
Delaherche versuchte sich auf seiner Plattform schleunigst über die Sachlage Rechenschaft zu geben. Die Stadt hatte weniger gelitten, als anzunehmen war; nur in der Cassine-Vorstadt stieß eine einzige Feuersbrunst dicken, schwarzen Rauch aus. Das Fort Pfalz feuerte nicht mehr, ohne Zweifel aus Mangel an Schießbedarf. Nur die Geschütze beim Pariser Tor gaben noch hin und wieder einen Schuß ab. Und was ihm sogleich am meisten auffiel, die weiße Fahne auf dem Donjon war wieder aufgezogen; aber vom Schlachtfeld aus mußte man sie wohl nicht sehen können, denn das Feuer dauerte mit gleicher Heftigkeit fort. Die benachbarten Dächer verdeckten ihm die Straße nach Balan, so daß er den Truppenbewegungen auf ihr nicht folgen konnte. Sowie er übrigens sein Auge wieder an das eingestellt gebliebene Fernrohr geführt, fiel es wieder auf den deutschen Generalstab, den er mittags schon auf derselben Stelle beobachtet hatte. Der Herr, der winzige, einen halben Finger große Bleisoldat, in dem er den König von Preußen zu erkennen geglaubt hatte, stand immer noch aufrecht in seiner dunklen Uniform vor den andern Offizieren, die sich mit ihren funkelnden Stickereien meist ins Gras gelegt hatten. Da waren fremde Offiziere, Adjutanten, Generäle, Hofmarschälle, Prinzen, die alle mit Feldstechern versehen schon vom Morgen an dem Todeskampfe der französischen Truppen wie einem Schauspiele folgten. Und das furchtbare Trauerspiel ging zu Ende.
Der König Wilhelm hatte also von der bewaldeten Höhe der Marfée aus der Vereinigung seiner Truppen beigewohnt. Nun war sie vollzogen; die dritte Heeresgruppe war unterdem Befehl seines Sohnes, des Kronprinzen von Preußen, über Saint-Menges und Fleigneur marschiert und hatte die Hochebene von Illy in Besitz genommen; die vierte dagegen, die der Kronprinz von Sachsen befehligte, kam ihrerseits über Daigny und Givonne zu dem Treffpunkt, indem sie das Garennegehölz umging. So gaben das elfte und fünfte Korps dem zwölften und der Garde die Hand. Die letzte Anstrengung, den Kreis im Augenblick, wo er sich schloß, zu durchbrechen, der unnütze, aber ruhmreiche Angriff der Division Margueritte, hatte dem König den bewundernden Ausruf entrissen: »Ach, die braven Leute!« Jetzt neigte sich der mathematisch unerbittliche Einhüllungsvorgang seinem Ende zu, die Backen des Schraubstockes hatten sich geschlossen und der König konnte mit einem einzigen Blicke die Riesenmauer von Menschen und Geschützen überblicken, die das besiegte Heer einschloß. Im Norden wurde die Umzingelung enger und enger und drängte die Fliehenden unter dem verdoppelten Feuer ihrer Batterien, deren Linie den Horizont lückenlos abschloß, nach Sedan hinein. Um Mittag hatte das genommene Bazeilles zu brennen aufgehört, traurig und leer stieß es nur noch Rauch und Funkenwirbel aus; und die Bayern, die jetzt Herren von Balan waren, richteten ihre Geschütze auf dreihundert Meter gegen die Stadttore. Die andern auf dem linken Ufer bei Pont-Maugis und Noyers, bei Frénois und Wadelincourt aufgestellten Batterien, die seit zwölf Stunden ununterbrochen feuerten, donnerten lauter und schlössen den undurchdringlichen Kreis von Flammen bis zu den Füßen des Königs hinüber.
Aber König Wilhelm ließ sein Fernglas einen Augenblick ermüdet sinken und fuhr fort, mit bloßem Auge zuzusehen. Die Sonne sank schräg gegen die Wälder hinab, um in einemfleckenlos klaren Himmel unterzugehen. Das ganze weite Feld war von ihrem Licht vergoldet und in so durchsichtiger Klarheit gebadet, daß auch die geringsten Kleinigkeiten mit außergewöhnlicher Deutlichkeit zu erkennen waren. Er konnte in Sedan die Häuser mit ihren kleinen schwarzen Fensterreihen unterscheiden, die Wälle, die Festung mit all ihren verwickelten Verteidigungsanlagen, deren Kanten sich scharf überschnitten. Dann weiter fort lagen die Dörfer mitten in den Feldern so frisch und glänzend da, daß sie wie Spielzeug aussahen, links Donchery am Rande seiner weiten Ebene, rechts Douzy und
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