Der Zusammenbruch
Carignan, von Wiesen umgeben. Es sah so aus, als könnte man die Bäume im Ardennerwald zählen, dessen grüner Ozean sich gegen die Grenze hin verlor. Die Maas mit ihren langen Windungen erschien in diesem spielenden Lichte ganz wie ein Strom aus reinem Gold. Und die wilde Schlacht mit ihrem blutigen Gemetzel wurde, von hier oben gesehen, im Lichte der scheidenden Sonne zu einem zarten Gemälde: tote Reiter und erschlagene Pferde übersäten die Hochebene von Floing mit lebhaft bunten Flecken; nach rechts hin, nach der Seite der Givonne hinüber, fesselte das Auge das letzte Gedränge des Rückzuges, das wie ein Wirbel kleiner, schwarzer, hin und her laufender und sich überstürzender Punkte aussah; auf der Halbinsel von Iges, links hinüber, erschien dagegen eine bayerische Batterie mit ihren Geschützen, so groß wie Streichhölzer, wie ein hübsches mechanisches Spielzeug, das mit der Genauigkeit eines Uhrwerkes arbeitete. Das war der unerhoffte, zerschmetternde Sieg, und der König empfand durchaus keine Gewissensbisse angesichts all dieser winzigen Leichen, dieser Tausende von Menschen, die weniger Platz einnahmen als der Staub auf der Straße, angesichts dieses weiten Tales, in dem die Feuersbrünstevon Bazeilles, das Gemetzel von Illy, die Ängste Sedans die Schönheit der Natur an diesem heiteren Abend eines schönen Tages doch nicht unterdrücken konnten.
Aber mit einemmal sah Delaherche einen französischen General die Abhänge der Marfée hinaufklimmen, der, mit einer blauen Tunika bekleidet, ein schwarzes Pferd ritt und dem ein Husar mit einer weißen Fahne voranritt. Es war der General Reille, der vom Kaiser mit der Überreichung folgenden Briefes beauftragt worden war: »Mein Herr Bruder, da es mir nicht vergönnt war, inmitten meiner Truppen zu sterben, bleibt mir nichts übrig, als meinen Degen in die Hände Eurer Majestät zu übergeben. Ich bin Eurer Majestät freundwilliger Bruder, Napoleon.« In seiner Hast, dem Morden Einhalt zu tun, übergab sich der Kaiser, da er nicht mehr Herr war, in der Hoffnung, den Sieger dadurch zu erweichen. Und Delaherche sah den General Reille zehn Schritte vor dem König anhalten und vom Pferde steigen und dann unbewaffnet, nur eine Reitpeitsche in den Händen, vortreten, um den Brief zu übergeben. Die Sonne ging in einem mächtigen rosigen Leuchten zur Neige, der König setzte sich auf einen Stuhl, er lehnte sich gegen einen andern, auf dem ein Sekretär saß, und antwortete: er nehme den Degen an und erwarte einen Offizier, mit dem über die Übergabe verhandelt werden könne.
7.
Zu dieser Stunde flutete aus all den verlorenen Stellungen um Sedan herum, von Floing, von der Hochebene von Illy, vom Garennegehölz, aus dem Givonnegrunde und über die Straße von Bazeilles her ein Strom verstörter Menschenmit Pferden und Geschützen in einer mächtigen Welle gegen die Stadt zurück. Diese wurde nun, da man sich in einer unglücklichen Gedankenverbindung auf sie als einen festen Platz stützen zu können geglaubt hatte, zu einer todbringenden Falle, da sie den Flüchtlingen Schutz zu bieten schien, zu einem Heilsort bei der allgemein gewordenen Entmutigung und Panik, nach dem sich auch die Tapfersten mitreißen ließen. Hinter den Wällen dort hinten glaubten sie endlich der schrecklichen Artillerie entrinnen zu können, die seit fast zwölf Stunden brüllte; weder Gewissenhaftigkeit noch Vernunft hatten irgendwelchen Bestand mehr, das Tier gewann die Oberhand über den Menschen. Das unsinnige Gefühl, sich schleunigst ein Loch suchen zu müssen, um sich darin zu vergraben und schlafen zu können, behielt die Oberhand.
Als Maurice am Fuße der kleinen Mauer Jeans Gesicht mit frischem Wasser wusch, sah er, wie der die Augen öffnete, und stieß einen Freudenruf aus.
»Ach, mein armer Kerl, ich glaubte schon, du wärest futsch! ... Und weißt du, ich will dir ja gerade keinen Vorwurf draus machen, aber leicht bist du nicht!«
Jean war noch ganz betäubt und schien aus einem Traume zu erwachen. Dann aber mußten ihm wohl Verständnis und Erinnerung zurückkommen, denn zwei große Tränen rollten ihm über die Backen. Der gebrechliche Maurice da, den er wie ein Kind liebte und hegte, der hatte also in seiner mächtigen Freundschaft für ihn so viel Kraft in seinen Armen empfunden, um ihn bis hierher zu schleppen!
»Warte, laß mich mal deinen Kohlkopf nachsehen.«
Die Wunde war ganz unbedeutend, nur ein Riß in der behaarten Lederhaut, der stark geblutet
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