Der Zusammenbruch
trotz seiner Aufregung, um einen Augenblick mit ihm zu plaudern.
»Nun ruhen Sie sich nur aus, Herr Hauptmann! Wir lassen ein Zimmer für Sie zurechtmachen, und dann holen wir Sie zu uns.«
Ein Erwachen, eine Minute von Klarheit kam über den gänzlich teilnahmlosen Verwundeten.
»Nein, ich glaube bestimmt, ich sterbe.«
Er sah sie alle drei mit weit geöffneten, von Todesfurcht erfüllten Augen an.
»O lieber Hauptmann, was sagen Sie da?« flüsterte Gilberte und zwang sich trotz eines eisigen Gefühls zu einem Lächeln. »In einem Monat sind Sie wieder hoch!«
Er schüttelte den Kopf und sah nur noch nach ihr: dabei sprach aus seinen Blicken ein gewaltiger Jammer um sein verlorenes Leben, eine Art Feigheit, so jung allein aus dem Dasein fortzumüssen, ohne seine Freuden ausgekostet zu haben.
»Ich muß sterben, ich muß sterben ... Ach, es ist scheußlich!«
Plötzlich bemerkte er, wie schmutzig und zerrissen seine Uniform war und wie schwarz seine Hände, und das machte ihm seinen Zustand vor den Frauen offenbar erst recht peinlich. Er schämte sich seiner Verwahrlosung, und der Gedanke, er sehe unordentlich aus, verlieh ihm einen Anstrich von Tapferkeit. Es gelang ihm sogar, mit seiner früheren fröhlichen Stimme zu sagen:
»Nur, wenn es sein muß, möchte ich gern mit sauberen Händen sterben ... Es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, gnädige Frau, wenn Sie ein Handtuch etwas naß machen und mir geben wollten.«
Gilberte lief und kam mit einem Handtuch wieder; sie wollte ihm die Hände selbst waschen. Von nun an bewies er großen Mut und tröstete sich damit, daß er als ein Mann sterbe, der zur guten Gesellschaft gehöre. Delaherche machte ihm Mut und half seiner Frau, es ihm bequem zu machen. Und als die alte Frau Delaherche das Ehepaar sich so umdiesen Sterbenden bemühen sah, fühlte sie ihren ganzen Groll dahinschwinden. Sie wollte noch einmal schweigen, obwohl sie alles wußte und sich geschworen hatte, es ihrem Sohne zu erzählen. Warum sollte sie das Haus veröden, nun der Tod doch den Fehltritt mit sich hinwegnahm?
Das war beinahe unmittelbar darauf der Fall. Hauptmann Beaudouin wurde immer schwächer und verfiel wieder in seine Teilnahmlosigkeit. Eisiger Schweiß rann ihm über Gesicht und Hals. Einen Augenblick öffnete er noch die Augen und tastete umher, als fühlte er nach einer Decke, die er sich einbildete und mit gekrümmten Händen mit einer leisen, hartnäckigen Bewegung bis ans Kinn heraufziehen wollte.
»Oh, mir ist so kalt, mir ist so kalt!«
Dann ging er hinüber, ohne jedes Schlucken löschte er aus, und sein kleiner werdendes Gesicht bewahrte in aller Winzigkeit einen Ausdruck unendlicher Traurigkeit.
Delaherche achtete darauf, daß der Körper anstatt auf den Leichenhaufen in einen anstoßenden Stall gebracht wurde. Er wollte Gilberte, die ganz in Tränen aufgelöst war, zwingen, in ihr Zimmer hinaufzugehen. Aber sie behauptete, sie hätte jetzt zuviel Angst, wenn sie allein wäre, und wollte lieber bei ihrer Schwiegermutter in dem betäubenden Wirrwarr des Lazaretts bleiben. Sie lief auch schon und gab einem Chasseur d'Afrique zu trinken, den sein Fieber zum Irrereden brachte; dann half sie einem Pfleger einem ganz kleinen Soldaten die Hand verbinden, einem zwanzigjährigen Rekruten, der mit abgerissenem Daumen zu Fuß vom Schlachtfeld gekommen war; und da er sehr nett und vergnügt war und über seine Wunde in unbekümmerter, echt Pariser Weise auch noch scherzte, wurde sie dadurch schließlich auch wieder ganz heiter.
Während der Hauptmann mit dem Tode kämpfte, schien der Geschützdonner immer noch mehr zuzunehmen; eine zweite Granate fiel in den Garten und brach einen der hundertjährigen Bäume nieder. Die Leute schrien wie verrückt, ganz Sedan brenne, in der Cassine-Vorstadt wäre eine gewaltige Feuersbrunst ausgebrochen. Wenn diese Beschießung längere Zeit mit derartiger Heftigkeit anhielt, dann bedeutete das das Ende von allem.
»Das ist nicht möglich, ich gehe wieder hin!« rief Delaherche außer sich.
»Wohin denn?« fragte Bouroche.
»Nach der Unterpräfektur natürlich; ich will wissen, ob der Kaiser uns zum Narren hält mit seiner Rederei, er wolle die weiße Fahne hissen lassen.«
Bei dem Gedanken an die weiße Fahne blieb der Stabsarzt ein paar Sekunden wie betäubt stehen; nun brach also auch noch die Niederlage, die Übergabe über ihn herein, zu seiner Ohnmacht, all diese zermalmten armen Teufel, die ihm zugeschleppt wurden, zu retten. Seine
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