Der Zusammenbruch
so hob der Drang, ihn wiederzusehen, ihn trotz allem bei sich zu haben, und wenn's auch nur in der Erde wäre, sie empor und riß sie aus ihrer gewöhnlichen Zurückhaltung.
Sie stieß Karlchen heftig beiseite und rief:
»Nein! Das glaube ich nicht, ehe ich es nicht selbst auch gesehen habe ... Wenn Ihr wißt, wo es ist, dann müßt Ihr mich hinbringen. Und wenn es wahr ist und wir ihn finden, dann bringen wir ihn mit.«
Tränen erstickten sie, sie legte den Kopf auf den Tisch und heftiges Schluchzen erschütterte sie, während der Kleine, ganz starr darüber, von seiner Mutter so beiseite geschubst zu werden, auch in Tränen ausbrach. Sie nahm ihn wieder hoch und preßte ihn mit wirren, stammelnden Worten ans Herz.
»Mein armer Junge! Mein armer Junge!«
Vater Fouchard war ganz verdutzt. In seiner Weise liebte er ja doch seinen Sohn auch. Aus großer Ferne mußten ihm wohl alte Erinnerungen wieder aufsteigen, aus den Zeiten, als seine Frau noch lebte und Honoré noch zur Schule ging; und zu gleicher Zeit traten ihm zwei dicke Tränen in die roten Augen und rannen über seine wettergebräunten Backen. Seit zehn Jahren hatte er nicht mehr geweint. Flüche entfuhren ihm und er wurde schließlich wütend über den Jungen, der doch seiner war und den er nun nicht mehr wiedersehen sollte.
»Herrgott noch mal! So was ist doch gemein, wenn man bloß einen Jungen hat und sie nehmen einem den!«
Als seine Ruhe dann aber einigermaßen zurückkehrte, ärgerte Fouchard sich, daß Silvine immer noch davon redete, sie wolle Honorés Leiche da draußen suchen. Sie war jetzt in ein tränenloses, aber hartnäckiges, unüberwindliches Schweigen verfallen; er kannte sie gar nicht wieder bei ihrer sonstigen Fügsamkeit, mit der das Mädchen alles voller Hingebung zu besorgen pflegte: ihre großen, unterwürfigen Augen, die allein ihrem Gesicht schon eine so hohe Schönheit verliehen, hatten eine wilde Entschlossenheit angenommen, während ihre Stirn unter der Flut ihres dichten braunen Haares ihre Blässe beibehielt. Sie hatte sich ein rotes Umschlagetuch, das sie um die Schultern trug, abgerissen, so daß sie nun ganz schwarz, wie eine Witwe, dastand.
Vergeblich stellte er ihr die Schwierigkeiten solcher Nachforschungen vor, die Gefahren, denen sie sich möglicherweise aussetzte, die geringe Hoffnung, die sie habe, den Leichnam zu finden. Sie hörte einfach auf zu antworten, und er sah wohl, sie würde allein gehen und irgendwelche Torheit begehen,wenn er sich der Sache nicht annähme, und das beunruhigte ihn noch mehr wegen der möglichen Verwicklungen, in die ihn dies mit den preußischen Behörden stürzen konnte. Schließlich entschied er sich denn auch, zu dem Ortsvorsteher von Remilly zu gehen, einem entfernten Vetter von ihm, und die beiden brachten unter sich eine ganze Geschichte zusammen: Siloine wurde für Honorés wirkliche Witwe ausgegeben, Prosper wurde ihr Bruder, und so stellte der unten im Ort, im Gasthof zum Malteserkreuz, untergebrachte bayrische Oberst ihnen gern einen Erlaubnisschein als Bruder und Schwester aus, der diesen gestattete, den Körper des Gatten zurückzubringen, falls sie ihn auffänden. Darüber war die Nacht hereingebrochen, und alles, was sie von der jungen Frau erreichen konnten, war, daß sie den nächsten Tag abwartete, um sich auf den Weg zu machen.
Am nächsten Tage hätte Vater Fouchard ihr unter keinen Umständen gestattet, eins seiner Pferde anzuspannen, denn er fürchtete, es nie wiederzusehen. Wer konnte ihm sagen, ob die Preußen nicht das Tier und den Wagen beschlagnahmen würden? Widerstrebend genug fand er sich schließlich bereit, ihr einen Esel zu leihen, einen kleinen grauen, dessen schmaler Karren noch groß genug war, um den Leichnam aufzunehmen. Er gab Prosper ausführliche Verhaltungsmaßregeln; der hatte zwar gut geschlafen, aber bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt wurde er doch nachdenklich, als er nun, gut ausgeruht, sich zu erinnern versuchte. In der letzten Minute holte Silvine noch ihre eigene Bettdecke und faltete sie auf dem Boden des Karrens zusammen. Und als sie schon aufgebrochen waren, kam sie noch einmal zurückgelaufen, um Karlchen einen Kuß zu geben.
»Vater Fouchard, ich vertraue ihn Euch an; paßt gut auf, daß er nicht mit den Streichhölzern spielt.«
»Ja, ja, sei nur ruhig!«
Die Vorbereitungen hatten sich hingezogen, und es war fast sieben Uhr, als Silvine und Prosper hinter dem schmalen Karren, den der kleine Esel zog, mit gesenktem
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