Der Zusammenbruch
Umgebung umherstreiften. In der Ferne blieben Gruppen von Einwohnern stumm, mit verhaltener Wut stehen. Eine ganz junge Frau mit aufgelöstem Haar und schmutzbedecktem Kleid stand hartnäckig vor dem rauchenden Trümmerhaufen eines kleinen Hauses und wollte trotz dem ihr die Annäherung verbietenden Wachtposten in der Glut herumstochern. Und plötzlich, als der Bayer sie mit brutaler Handbewegung fortwies, drehte sie sich um und spie ihm ihre ganze wütende Verzweiflung ins Gesicht, blutige, schmutzigeBeleidigungen, Schmutzereien, die sie etwas zu trösten schienen. Er mußte sie wohl nicht verstanden haben, denn er sah sie unruhig an und trat zurück. Drei seiner Gefährten kamen herzu und machten ihn von dem Weibe frei, indem sie sie heulend fortführten. Vor den Trümmern eines andern Hauses lagen ein Mann und zwei kleine Mädchen vor Mattigkeit und Jammer alle drei auf der Erde und schluchzten, denn sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten, nachdem sie alles, was sie besaßen, in Asche hatten vergehen sehen. Aber ein Streiftrupp kam vorbei und zerstreute die Neugierigen, so daß die Straße wieder menschenleer, nur mit ihren Posten dalag, die düster und hart, scharf auf Befolgung ihres verruchten Auftrages achteten.
»Die Schweinehunde, die Schweinehunde!« wiederholte Prosper dumpf. »Müßte das ein Spaß sein, einen oder zwei abzuwürgen!«
Silvine brachte ihn von neuem zum Schweigen. In einem vom Feuer verschonten Wagenschuppen heulte ein Hund, der dort eingeschlossen und seit zwei Tagen vergessen war, in fortdauernden Klagetönen so jammervoll, daß es wie ein Schiecken durch den schwer herniederhängenden Himmel lief, von dem ein leichter, grauer Regen niederzufallen begann. In diesem Augenblick stießen sie gerade vor dem Park von Montivilliers auf drei große zweirädrige Karren voller Toter, die dort in einer Reihe standen, Abfuhrwagen, wie sie mit der Schaufel jeden Morgen an den Straßen entlang mit dem Kehricht vom Tage vorher gefüllt werden; ebenso hatte man sie jetzt mit Leichen beladen; sie hielten bei jedem Toten, der hinaufgeworfen wurde, und rumpelten dann unter dem mächtigen Lärm ihrer Räder wieder los, bis sie etwas weiter wieder bei einem Toten anhielten, und so zogen siedurch ganz Bazeilles, bis der Haufen über ihren Rand quoll. Sie hielten unbeweglich auf der Straße, bis sie zu einem nahen öffentlichen Abladeplatz gebracht wurden, einem benachbarten Beinhaus. Füße standen in die Luft. Ein halb abgerissener Kopf fiel herab. Als die drei Karren sich dann wieder in Bewegung setzten und durch die Pfützen holperten, geriet eine herabhängende leichenblasse, sehr lange Hand gegen eins der Räder; und die Hand wurde allmählich bis auf den Knochen zermahlen und abgeschliffen.
In dem Dorfe Balan hörte der Regen auf. Prosper brachte Silvine dazu, ein Stück Brot zu essen, das er vorsichtshalber mitgebracht hatte. Es war schon elf Uhr. Aber als sie an Sedan herankamen, hielt ein preußischer Posten sie wieder an; und diesmal wurde es schrecklich, der Offizier wurde wütend und wollte ihnen nicht einmal den Schein wiedergeben, den er in einem übrigens sehr richtigen Französisch für falsch erklärte. Auf seinen Befehl zogen ein paar Soldaten den Esel mit seinem Karren, unter einen Schuppen. Was sollten sie nun machen? Wie sollten sie den Weg fortsetzen? Silvine geriet in Verzweiflung; aber da kam ihr ein Gedanke: der Vetter Dubreuil kam ihr wieder ins Gedächtnis, der Verwandte Vater Fouchards, den sie auch kannte und dessen Besitzung, die Eremitage, nur ein paar hundert Schritt an einem der Gäßchen in der Vorstadt lag. Er war Bürger, und auf ihn würden sie vielleicht hören. Sie nahm Prosper mit, da man sie unter der Bedingung frei ließ, daß der Karren dabliebe. Sie rannten und fanden das Gitter der Eremitage weit offenstehen. Schon von weitem fesselte sie ein staunenerregendes Schauspiel, das sie schon bemerkten, als sie sich in einen der Baumgänge hundertjähriger Ulmen hineinwandten.
»Verflucht!« meinte Prosper, »hier geht's aber hoch her!«
Unten vor der Freitreppe befand sich auf dem feinen Kiese der Terrasse eine ganze fröhliche Gesellschaft. Um einen runden Tisch mit Marmorplatte bildeten mit himmelblauem Atlas überzogene Lehnstühle mit einem Sofa einen Kreis und stellten so in der freien Luft eine befremdliche Einrichtung dar, die der Regen schon seit gestern hatte durchweichen müssen. Zwei Zuaven wälzten sich über die Sofalehnen und schienen vor
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