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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Züchtigungen dem Märtyrertod. Das war zuviel, er geriet ganz außer sich, er lechzte nach Gerechtigkeit, und ein brennender Drang nach Rache am Schicksal erfüllte ihn.
    Als die Dämmerung anbrach, war der eine Soldat tot, der andere röchelte immer noch.
    »Komm, vorwärts, Junge,« sagte Jean sanft. »Wir wollen Luft schnappen, dann wird uns wieder besser.«
    Aber draußen, als sie beide in dem schönen, schon warmen Morgen am Ufer entlang gingen, da regte Maurice sich noch mehr auf; er streckte die Fäuste gegen das weite, sonnenüberglänzte Rund des Schlachtfeldes aus, die Ebene von Illy ihnen gegenüber, Saint-Menges links, das Garennegehölz rechts von ihnen.
    »Nein, nein, ich kann nicht länger, ich kann das nicht mehr sehen! Es durchbohrt mir das Herz und spaltet mir den Schädel, das immer vor mir zu haben ... Bring' mich weg, bring' mich sofort weg!«
    Dieser Tag war wieder ein Sonntag; Glockentöne kamen von Sedan herüber, und schon von weitem hörten sie die Musik der Deutschen. Aber die 106er hatten immer noch keinen Befehl, und Jean, der sich vor dem wachsenden WahnsinnMaurices fürchtete, entschloß sich, einen neuen Plan zu versuchen, der seit gestern in ihm gereift war. Auf dem Wege vor dem preußischen Posten bereitete sich der Abgang eines andern Regiments vor, des fünften Linienregiments. Es herrschte große Verwirrung in der Abteilung, mit deren Abzählung ein sehr schlecht französisch sprechender Offizier gar nicht fertig werden konnte. Und nachdem sie beide Kragen und Knöpfe von ihren Uniformen abgerissen hatten, um sich nicht durch die Regimentsnummer zu verraten, drängten sie sich mitten in das Gewühl hinein; sie kamen über die Brücke hinüber und befanden sich draußen. Chouteau und Loubet hatten offenbar denselben Gedanken gehabt, denn sie bemerkten die beiden mit ihren unruhigen Mörderblicken hinter sich.
    Ach! Was für eine Erleichterung, diese erste Minute des Glückes. Wie eine Auferstehung kam ihnen das Draußensein vor, das lebensvolle Licht, die schrankenlose Luft, ein blühendes Erwachen all ihrer Hoffnungen. Wie groß auch ihr Elend immer noch sein mochte, sie fürchteten es nicht länger, sie lachten darüber, als sie jetzt dem schrecklichen Alpdruck des Jammerlagers entkommen waren.
     

3.
    Zum letzten Male hörten Jean und Maurice nun an diesem Morgen die fröhlichen Klänge französischer Hörner; jetzt ging's auf der Straße nach Deutschland dahin unter dem Trupp Gefangener, dem Abteilungen preußischer Soldaten voranschritten und folgten, während andere sie rechts und links mit aufgepflanztem Bajonett bewachten. Und nun bekamen sie bei allen Posten nur noch deutsche Trompeten mit ihren scharf und traurig tönenden Klängen zu hören.
    Maurice war glücklich, als er feststellen konnte, daß die Abteilung links abbog, um durch Sedan zu gehen. Vielleicht konnte er da noch einmal, wenn die Gelegenheit günstig war, seine Schwester Henriette sehen. Aber die fünf Kilometer, die die Halbinsel Iges von der Stadt trennen, genügten, um ihm die Freude über das Entrinnen aus der Kloake, in der er neun Tage lang gelitten hatte, zu verderben. Dies war jetzt noch eine besondere Strafe, dieser jammervolle Schub gefangener, waffenloser Soldaten mit hängenden Armen, die wie eine Hammelherde in eiligem, furchtsamem Getrappel davongeführt wurden. Mit Lumpen bekleidet, schmierig und in ihrem eigenen Schmutz verwahrlost, abgemagert durch ein reichlich wochenlanges Fasten, glichen sie nur noch Landstreichern, verdächtigen Strolchen, die die Gendarmen auf der Landstraße mit einem Netzzug gefangen hatten. Schon von der Vorstadt Torcy an, als Männer stehenblieben und Frauen mit einem Blick düstern Mitleides unter die Türen traten, brach eine erstickende Welle von Scham über Maurice herein; er senkte den Kopf, einen bittern Geschmack im Munde.
    Jean, der einen auf die Wirklichkeit gerichteten Sinn und ein dickeres Fell hatte, dachte nur, wie dumm es von ihnen gewesen wäre, daß sie nicht jeder ein Brot mitgenommen hätten. In der Überstürzung ihres Abganges waren sie sogar nüchtern losgezogen; und wieder einmal zerbrach der Hunger ihnen die Beine. Andere Gefangene mußten sich wohl im gleichen Falle befinden, denn viele hielten Geld hin und flehten, man möchte ihnen etwas verkaufen. Ein sehr langer, magerer, der sehr krank aussah, schwenkte mit seinem langen Arm ein Goldstück hin und her und bot es über die Köpfe der Begleitmannschaften hinweg aus, voller

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