Der Zusammenbruch
Wenn sie nur durch den kleinsten Weiler kamen, litt er schrecklich unter den mitleidigen Blicken der Weiber. Wie sollte das werden, wenn sie erst nach Deutschland hineinkämen und die Einwohner der Städte sich drängen würden, um ihn auf seinem Durchmärsche mit beleidigendem Lachen zu empfangen? Und er malte sich schon die Viehwagen aus, in die man sie hineinpferchen würde, die ekelhaften Quälereien unterwegs, das traurige Dasein auf der Festung unter dem schneegeschwängerten Winterhimmel. Nein, nein! Viel lieber sofort tot, viel eher es darauf ankommen lassen, sein Fell hier am Wegesrande liegenzulassen, auf französischer Erde, als dort hinten auf dem Grunde einer dunklen Kasematte zu verfaulen, vielleicht monatelang!
»Hör' mal,« sagte er ganz leise zu Jean, der neben ihm ging, »wir wollen abwarten, bis wir an einem Gehölz entlangkommen, und dann mit einem Satze zwischen die Bäume ausreißen ... Die belgische Grenze ist nicht weit; wir werden schon irgend jemand finden, der uns hinbringt.«
Trotz seines Widerwillens, der schließlich ihn selbst gleichfalls von Ausreißen träumen ließ, fing Jean, der eine klarere und kaltblütigere Sinnesart hatte, an zu zittern.
»Bist du verrückt? Sie schießen sofort, und wir bleiben alle beide liegen!«
Maurice schien durch eine Bewegung ausdrücken zu wollen, es bestände doch auch die Möglichkeit, sie könnten sie fehlen, aber wenn sie schließlich dabei liegenblieben, na ja! dann war's auch noch nicht schlimmer.
»Schön,« fuhr Jean fort, »aber was wird denn aus uns mit unsern Uniformen? Du siehst doch, das ganze Land steckt voll deutscher Posten. Wenigstens müßten wir doch andere Anzüge haben ... Es ist zu gefährlich, mein Junge, so 'ne Dummheit darfst du nicht machen!«
Er mußte ihn zurückhalten und ihn am Arme fassen; er drückte ihn an sich, als müßten sie sich gegenseitig stützen, während er ihn weiter in seiner etwas mürrischen und doch so zartfühlenden Weise beruhigte.
In diesem Augenblicke ließ sie Stimmengeflüster hinter ihrem Rücken sich umdrehen. Es waren Chouteau und Loubet, die am Morgen gleichzeitig mit ihnen von der Halbinsel Iges aufgebrochen waren und die sie bis jetzt hatten vermeiden können. Jetzt marschierten die beiden Galgenvögel ihnen auf den Hacken. Chouteau mußte wohl Maurices Worte über seinen Plan, in ein Gehölz zu entfliehen, gehört haben, denn er nahm ihn seinerseits wieder auf. Er flüsterte ihnen von hinten zu:
»Hört mal, das machen wir mit! Das ist ein großartiger Plan, so auszureißen! Es sind schon verschiedene Genossen losgezogen; wir werden uns doch wohl nicht wie Hunde in dieser Schweinehunde Land mitschleppen lassen ... Na? Wenn wir viere mal 'n bißchen Luft schnappten?«
Maurice geriet von neuem in Fieberhitze, und Jean mußte sich umdrehen und dem Versucher entgegnen:
»Wenn du es eilig hast, lauf' nur voran ... Was denkst du dir denn?«
Vor dem klaren Blicke des Korporals wurde Chouteau etwas unruhig. Er ließ sich den wahren Grund seines Drängens entschlüpfen.
»Na ja! Wenn wir zu vieren sind, geht das doch viel leichter... Einer oder zwei werden immer schon durchkommen.«
Mit einer kräftigen Kopfbewegung wies Jean aber alles von sich ab. Er traute dem Herrn, wie er ihn nannte, nicht und befürchtete irgendeine Niedertracht. Er mußte seine ganze Macht über Maurice ausüben, um ihn am Nachgeben zu verhindern, denn gerade jetzt bot sich eine Gelegenheit, als sie an einem kleinen, sehr dichten Gehölz vorbeikamen, das nur durch ein Feld mit dichtem Gestrüpp vom Wege getrennt wurde. Über dies Feld im Galopp hinwegsetzen und im Dickicht verschwinden, war das nicht die Rettung?
Loubet hatte bisher nichts gesagt. Seine Nase schnüffelte unruhig im Winde umher; die lebhaften Augen des gerissenen Jungen spähten nach dem günstigsten Augenblicke; er war fest entschlossen, nicht in Deutschland zu verschimmeln. Er mußte sich wohl auf seine Beine und seine Verschlagenheit verlassen, die ihn schon so oft aus der Klemme gezogen hatten. Sein Entschluß war plötzlich gereift.
»Ach, Unsinn! Ich hab' genug! Los!«
Mit einem Satze warf er sich in das benachbarte Feld, und Chouteau machte es ebenso und lief neben ihm her. Sofort machten sich zwei Preußen zu ihrer Verfolgung auf, ohne daß es einem andern eingefallen wäre, sie mit einer Kugel anzuhalten. Der ganze Vorgang spielte sich so rasch ab, daß man sich zuerst gar nicht über ihn klar werden konnte. Loubet schlug Haken durch
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