Der Zusammenbruch
dem sie nun ihrerseits eine Herzensschuld abtrug. Sie war voller Dankbarkeit, und ihre Zuneigung wuchs, je besser sie ihn in seiner schlichten Verständigkeit, seiner festen Denkart kennenlernte; und er, den sie wie ein Kind versorgte, geriet auch seinerseits in eine tiefe Dankbarkeitsschuld; für jede Tasse Brühe, die sie ihm reichte, hätte er ihr die Hände küssen mögen. In der tiefen Einsamkeit, in der sie lebten und in der die gleichen Sorgen sie bewegten, wurde das Band zarter Zuneigung, das sie verknüpfte, jeden Tag enger. Hatten sie alle denkwürdigen Einzelheiten ihres Leidensweges von Reims nach Sedan erschöpft, und sie wurde nie müde, nach ihnen zu fragen, dann trat immer dieselbe Frage wieder hervor: was machte Maurice wohl jetzt? Warum schrieb er nicht? War denn Paris bereits vollständig eingeschlossen, daß sie gar keine Nachrichten mehr bekamen? Nur einen drei Tage nach seiner Abreise in Rouen aufgegebenen Brief hatte sie erhalten, in dem er ihnen in wenigen Zeilen auseinandersetzte, wie er nach einem langen Umwege in dieser Stadt gelandet wäre, um nach Paris zu kommen. Und nun seit einer Woche schon nichts mehr, völliges Schweigen.
Wenn Doktor Dalichamp morgens den Verwundeten verbunden hatte, machte es ihm Spaß, sich ein paar Minuten zu vergessen. Manchmal blieb er auch des Abends, wenn er zurückkam, noch etwas länger; und so stellte er das einzige Band mit der Welt für sie dar, der weiten Welt da draußen, die von verhängnisvollen Umwälzungen durcheinandergerüttelt wurde. Nur durch ihn erhielten sie Neuigkeiten; er besaß ein glühend vaterländisch fühlendes Herz, das vor Zorn und Kummer bei jeder Niederlage überquoll. Er sprach auch kaum von etwas anderm als von dem Einmarsch der Preußen,dessen Flut sich seit Sedan allmählich über ganz Frankreich ausbreitete wie eine schwarze Lache. Jeder Tag machte ihn trauriger, und er blieb niedergeschlagen auf einem der beiden Stühle am Bette sitzen und erklärte die Lage mit zitternden Handbewegungen für ernster und ernster. Zuweilen waren seine Taschen vollgestopft mit belgischen Zeitungen, die er ihnen daließ. Nach einem Zeitraum von Wochen gelangte so der Widerhall jedes Unglücks in diese weltverlorene Kammer und brachte die beiden armen, mit ihrem Leide dort eingeschlossenen Wesen durch gemeinsame Sorge immer noch näher zusammen.
Auf diese Weise las Henriette Jean dann auch aus alten Zeitungen die Vorgänge bei Metz vor, die große, heldenhafte Schlacht, die dreimal nach je einem Tage Zwischenraum wieder aufgenommen wurde. Sie waren schon fünf Wochen alt, aber er kannte sie noch nicht, und beim Hören krampfte sich ihm das Herz aufs neue zusammen, wenn er dort all den Jammer und die Mängel wiederfand, die er selbst durchgemacht hatte. Wenn Henriette mit ihrer etwas singenden Stimme wie eine aufmerksame Schülerin jeden Satz klar herausschälte, dann rollte sich in dem schaudernden Schweigen des einsamen Zimmers die ganze jammervolle Geschichte wieder ab. Nach Fröschweiler, nach Spicheren zauderten im Augenblick, als das vernichtete erste Korps das fünfte in seine Auflösung mit hineinriß, die andern von Metz bis Bitsch gestaffelten Korps und wichen in der Bestürzung über dies Unglück zurück, um sich schließlich in dem befestigten Lager auf dem rechten Moselufer zu sammeln. Aber wieviel kostbare Zeit verloren sie, anstatt sofort auf Paris zu eilen, ein Rückzug, der nachher so schwierig werden sollte! Der Kaiser hatte den Oberbefehl dem Marschall Bazaine abtreten müssen,von dem man den Sieg erwartete. Da kam am 14. Borny, wo die Truppe in dem Augenblick angegriffen wurde, als sie sich für den Übergang auf das linke Moselufer entschieden hatte; sie hatte zwei deutsche Heeresgruppen gegen sich, die Steinmetz', die unbeweglich dem befestigten Lager drohend gegenüberstand, und die des Prinzen Friedrich Karl, der oberhalb über den Fluß gegangen war und nun am linken Ufer hervorkam, um Bazaine von dem übrigen Frankreich abzuschneiden; Borny, dessen erste Schüsse erst nachmittags um drei Uhr losgingen, Borny, dieser Sieg ohne Folgen, der die französischen Korps zwar im Besitz ihrer Stellungen ließ, aber sie rittlings auf beiden Seiten der Mosel festnagelte, während die Umgehungsbewegung der zweiten deutschen Heeresgruppe sich vollzog. Dann am 16. kam Rézonville, wo alle Korps bereits auf dem linken Ufer standen, aber das dritte und vierte zurückblieben, weil die furchtbare Verstopfung an der Straßenkreuzung von
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