Der Zusammenbruch
außerhalb Paris. Von dieser Gespensterfurcht heimgesucht, lebten manche Bürger nur noch auf ihren Dächern, um die Umgebung abzusuchen. Am Tage vorher hatte man einen Unglücklichen, der auf einen offen auf einer Bank liegenden Stadtplan sah, in einem der Wasserbecken im Tuileriengarten ertränken wollen. Diesen krankhaften Verdacht zog Maurice, der sonst so freier Sinnesart gewesen war, sich ebenfalls zu bei der Erschütterung alles dessen, woran er bisher geglaubt hatte. Er war nicht länger verzweifelt wie am Abend der panischen Flucht von Chatillon, als er besorgt war, ob die französische Armee wohl je soviel männlichen Geist wiederfinden werde, daß sie sich schlagen könne: der Ausfall am 30. September auf l'Hay und Chevilly, der vom 13. Oktober, bei dem die Mobilgarden Bagneur nahmen, endlich der vom 21., bei dem sein Regimentsich einen Augenblick des Parks von Malmaison bemächtigte, stellten seinen Glauben, die ihn verzehrende Flamme seiner Hoffnung, die ein Funke wieder beleben konnte, wieder her. Wenn die Preußen ihr auch überall Einhalt boten, die Truppe hatte sich doch tapfer geschlagen, sie verstand noch zu siegen. Aber Maurices Leiden rührte davon her, wie dies große Paris von höchster Einbildung zur schlimmsten Entmutigung umsprang und trotz alles Dranges, zu siegen, von der Furcht vor Verrat heimgesucht wurde. Mußten nach dem Kaiser und dem Marschall Mac Mahon nicht General Trochu und General Ducrot nur mittelmäßige Führer bilden, ahnungslose Werkführer der Niederlage? Die gleiche Bewegung, die das Kaiserreich weggefegt hatte, drohte nun auch die Regierung der nationalen Verteidigung bei der Ungeduld ein paar Gewalttätiger mit sich zu reißen, die die Macht an sich reißen wollten, um Frankreich zu retten. Jules Favre und ihre andern Mitglieder waren dem Volke schon verhaßter als die gestürzten früheren Minister Napoleons III. Da sie die Preußen nicht schlagen wollten, mußten sie andern Platz machen, den Umstürzlern, die gewiß waren, zu siegen, indem sie die Erhebung der Massen ausschrieben und Erfindern ihr Ohr liehen, die die Bannmeile unterminieren oder den Feind durch einen neuartigen Regen griechischen Feuers zu vernichten gedachten.
Am Abend vor dem 31. Oktober wurde Maurice auf diese Weise von dem Übel träumerischer Mutlosigkeit heimgesucht. Er gab sich jetzt Einbildungen hin, über die er früher gelacht hätte. Warum nicht? Herrschten denn nicht Blödsinn und Verbrechen schrankenlos? Konnte nicht inmitten der Umwälzungen, die die ganze Welt auf den Kopf stellten, ein Wunder möglich werden? Seit langem hatte sich in ihm derGroll aufgespeichert, seit der Stunde, als er dort unten vor Mülhausen von Fröschweiler erfahren hatte; an Sedan blutete sein Herz noch wie aus einer frischen, stets aufs neue gereizten Wunde, die der geringste Anstoß wieder aufreißen konnte; die Erschütterung jeder neuen Niederlage schwang in ihm nach, sein Körper wurde immer jämmerlicher, der Kopf schwächer von einer so langen Reihe von Tagen ohne Brot, Nächten ohne Schlaf; er fühlte sich durch dies Leben wie in einem Alpdruck so verwirrt, daß er gar nicht mehr wußte, lebte er überhaupt noch; und der Gedanke, all dies Leid könne schließlich nur in einer neuen, nicht wieder gut zu machenden Umwälzung ihr Ende finden, machte ihn ganz närrisch, machte aus diesem gebildeten Manne ein Wesen, das nur noch in einer Gefühlswelt lebte, wieder zum Kinde wurde, das unaufhörlich sich nur von der Erregung des Augenblicks antreiben ließ. Alles, Vernichtung, Ausrottung lieber, als einen Sou, einen Zoll von Frankreichs Boden hergeben! In ihm vollzog sich jetzt die Umwälzung, die unter dem Eindruck der ersten verlorenen Schlachten die Napoleonssage vernichtet hatte, den gefühlsseligen Bonapartismus, den er den heldengedichtartigen Erzählungen seines Großvaters verdankte. Er blieb auch schon gar nicht mehr bei einer wissenschaftlichen, verständigen Republik stehen, er gab sich bereits mit dem gewaltsamen Umsturz ab und glaubte an die Notwendigkeit des Schreckens, um alle Unfähigen und Verräter wegzufegen, die das Vaterland abschlachten wollten. So war er am 31. mit dem Herzen auch bei den Aufrührern, als neue Unheilsnachrichten sich Schlag auf Schlag überstürzten: der Verlust von Le Bourget, das durch die Freiwilligen der Presse in der Nacht vom 27. auf den 28. so tapfer erobert worden war; die Ankunft Herrn Thiers' in Versailles,seine Rückkunft von der Reise durch die Hauptstädte
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