Der Zusammenbruch
selben Abend wurde der letzte, die Stadt mit Frankreich verbindende Draht, der Telegraph der Westbahn, durchschnitten. Paris war von der Welt abgeschnitten.
Für Maurice war dies ein Abend voll entsetzlicher Trauer. Hätten die Deutschen nur es wagen mögen, sie hätten diese Nacht auf dem Karussellplatz lagern können. Aber sie waren unbedingt vorsichtige Leute und hatten sich für eine Belagerung in den hergebrachten Formen entschieden; sie hatten schon die einzelnen Punkte der Einschließung festgelegt, die Stellungen der Maasabteilung im Norden von Croissy an der Marne sich durch Epinay ziehend, eine andere Linie für die dritte Heeresgruppe im Süden von Chennevières bis Châtillon und Bougival, wahrend das große Hauptquartier der Preußen, der König Wilhelm, Herr von Bismarck und der General von Moltke, die Leitung von Versailles ausüben würden. Die Riesenbelagerung, an die man nicht hatte glauben wollen, war nun zur Tatsache geworden. Diese Stadt mit ihrer acht und eine halbe Meile langen befestigten Umwallung, mit ihren fünfzehn Forts und sechs vorgeschobenen Außenwerken sollte sich nun wie in einem Gefängnis befinden. Das Verteidigungsheer zählte nur das dreizehnte Korps, das durch General Vinoy gerettet und herangeführt worden war, das noch in der Bildung begriffene und General Ducrot anvertraute vierzehnte, die zusammen einen Bestand von achtzigtausend Mann aufwiesen, zu denen noch vierzehntausend Marinemannschaften hinzutraten, und fünfzehntausend Mann Freikorps, hundertfünfzehntausend Mobilgarden, von den dreihunderttausend Nationalgarden gar nicht zu reden, die auf die neun Abschnitte der Wälle verteilt waren. Wenn das auch ein ganzes Volk darstellte, so fehltees doch an kriegsgewohnten Soldaten voller Manneszucht. Man rüstete die Leute aus und übte sie ein; Paris war nur noch ein mächtiges, befestigtes Lager. Die Vorbereitungen zur Verteidigung wurden von Stunde zu Stunde fieberhafter, die Wege abgeschnitten, die Häuser im Festungsgürtel niedergelegt, die zweihundert schwerkalibrigen Geschütze und die zweitausendfünfhundert andern instand gesetzt, weitere gegossen, für die eine ganze Werkstatt unter der mächtigen vaterländischen Anstrengung des Ministers Dorian aus der Erde emporschoß. Nach Abbruch der Verhandlungen von Ferrières, als Jules Favre die Forderungen Herrn von Bismarcks kennengelernt hatte, die Abtretung des Elsaß, die Besatzung von Straßburg kriegsgefangen, drei Milliarden Entschädigung, da erhob sich ein Schrei des Zornes; die Fortsetzung des Krieges, äußerster Widerstand wurde als für das Leben Frankreichs unerläßliche Bedingung ausgerufen. Selbst ohne Hoffnung auf Sieg mußte Paris sich verteidigen, damit das Vaterland leben könne.
An einem Sonntage gegen Ende September wurde Maurice auf Arbeitsdienst nach dem andern Ende der Stadt geschickt, und die Straßen, denen er folgte, die Plätze, über die er kam, erfüllten ihn mit neuer Hoffnung. Es schien ihm, als hätten sich die Herzen seit der Flucht von Chatillon zu der großen Notwendigkeit emporgeschwungen. Ach! dies Paris, das er als so vergnügungssüchtig gekannt hatte, so voll von den übelsten Fehlern, das fand er nun so einfach, voll so heiterer Tapferkeit, da alle ihre Opfer auf sich nahmen. Man traf nur noch Uniformen an; auch die Gleichgültigsten trugen das Käppi der Nationalgarden. Das öffentliche Leben war wie ein Uhrwerk mit gebrochener Feder stehengeblieben, Industrie, Handel, die Staatsgeschäfte; nur eine Leidenschaft bliebübrig, der Wille zu siegen, der einzige Gegenstand, von dem man noch sprach, der in den öffentlichen Versammlungen Herzen und Sinne ebenso entflammte wie während der Nachtwachen der Besatzungstruppen oder bei den ständigen Ansammlungen der Menge, die die Fußsteige versperrten. So zum Allgemeingut geworden, riß die Einbildung die Seelen mit, und die Spannung trieb das Volk zu edelmütigen, aber gefährlichen Torheiten. Es machte sich bereits ein gewisser Höhepunkt krankhafter Nervenschwäche geltend, eine fieberhafte Sucht, Furcht wie Vertrauensseligkeit zu übertreiben und die Bestie im Menschen beim geringsten Hauch zu entfesseln. Und in der Rue des Martyrs wohnte Maurice einem Vorgange bei, der auch ihn in Leidenschaft versetzte: eine wütende Bande stürzte sich in raschem Anlauf auf ein Haus, in dem man eins der oberen Fenster die ganze Nacht lebhaft von einer Lampe erhellt gesehen hatte, augenscheinlich ein Zeichen für die Preußen in Bellevue
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