Der Zusammenbruch
Bevölkerung kein Brot mehr hatte, Branntwein und Wein aber fässerweise, und sich daran ersättigte, so daß sie schon beim geringsten Tropfen ins Rasen geriet. Zum erstenmal in seinem Leben kam Maurice am Sonntag, dem 21., abends betrunken in die Rue de Orties, wo er von Zeit zu Zeit schlief. Er hatte den Tag wieder in Neuilly verbracht, mit den Genossen schießend und trinkend in der Hoffnung, dadurch die gewaltige Ermüdung zu bekämpfen, die ihn niederdrückte. Dann verlor er den Kopf und warf sich mit einer letzten Anstrengung in seinem kleinen Zimmer aufs Bett, wo er sich noch gefühlsmäßig hingefunden hatte, denn er konnte sich nie darauf besinnen, wie er nach Hause gekommen war. Und am nächsten Tage stand die Sonne schon hoch, als ihn der Lärm der Sturmglocken, der Trommeln und Hörner weckte. Die Versailler hatten am Tage vorher am Point-de-Jour ein Tor unbewacht gefunden und waren unbehelligt in Paris eingedrungen.
Sobald er sich eiligst angezogen hatte, das Gewehr umgehängt und hinuntergegangen war, erzählte ihm eine Gruppebestürzter Genossen, die sich auf dem Amtshause ihres Bezirks zusammengefunden hatten, die Vorgänge vom Abend und während der Nacht, aber unter derartiger Verwirrung, daß es ihm zuerst schwer wurde, sie überhaupt zu verstehen. Das Tor von Saint-Cloud war, seitdem das Fort von Issy und die große Batterie von Montretout mit Unterstützung des Mont-Valérien die Umwallung zehn Tage lang beschossen hatten, unhaltbar geworden; und der Angriff sollte am nächsten Tage stattfinden, als gegen fünf Uhr ein Vorüberkommender sah, daß kein Mensch das Tor bewachte, und einfach durch Zeichen die Posten aus den kaum fünfzig Meter entfernten Laufgräben heranlief. Ohne Säumen drangen zwei Kompanien des siebenunddreißigsten Linienregiments ein. Hinter ihnen her war dann das ganze vierte Korps, von General Ducrot geführt, hereingekommen. Die ganze Nacht durch war ein ununterbrochener Strom von Truppen eingedrungen. Um sieben Uhr zog bereits die Division Vergé gegen die Grenellebrücke hinunter und drang bis zum Trokadero vor. Um neun Uhr nahm General Clinchant Passy und La Muette. Um drei Uhr morgens lagerte das erste Korps im Bois de Boulogne; und im selben Augenblick überschritt die Division Bruat die Seine, um das Sèvrestor zu nehmen und dem zweiten Korps den Eintritt zu erleichtern, das unter dem Befehl General Cisseys eine Stunde später das Viertel von Grenelle besetzen sollte. So waren die Truppen Versailles am 22. mittags Herren des Trokadero und von La Muette auf dem rechten Ufer und von Grenelle auf dem linken; und das zum Erstarren, zum Zorn und zur Verwirrung der Kommune, die schon wieder nach Verrat zu schreien begann, da sie beim Gedanken an die unausbleibliche Vernichtung ganz den Kopf verlor.
Das war auch Maurices erstes Gefühl, als er alles begriffen hatte: das Ende war da, nun brauchte er sich nur noch töten zu lassen. Aber die Sturmglocken läuteten mit vollem Schwünge, die Trommler trommelten immer stärker, Weiber und sogar Kinder arbeiteten an den Barrikaden, die Straßen erfüllten sich mit dem Fieber der in aller Hast zusammengerufenen, auf ihre Gefechtsstellungen eilenden Bataillone. Aber von Mittag an stieg die ewige Hoffnung wieder in den Herzen der aufgeregten, zum Siege entschlossenen Kommunekämpfer auf, als sie feststellen konnten, daß die Versailler sich kaum vom Fleck gerührt hatten. Diese Truppen, von denen sie gefürchtet hatten, sie in zwei Stunden in den Tuilerien zu sehen, gingen mit ungewöhnlicher Vorsicht zu Werke, da sie aus ihren Niederlagen gelernt hatten und nun die ihnen von den Preußen so hart eingeblaute Fechtweise noch übertrieben. Beim Stadthause richteten der Wohlfahrtsausschuß und Delescluze, der Abgeordnete für den Krieg, die Verteidigung ein und leiteten sie. Es hieß, sie hätten einen letzten Versöhnungsversuch mit Verachtung zurückgewiesen. Das entstammte den Mut, Paris' Sieg erschien wieder gesichert, überall würde wilder Widerstand herrschen, wie auch der Angriff mit Unversöhnlichkeit vor sich gehen würde bei dem durch Lügen und Grausamkeiten angestachelten Haß, der in den Herzen beider Heere brannte. Diesen Tag verbrachte Maurice in der Gegend des Marsfeldes und der Invaliden, wo sie sich langsam, beständig feuernd, von Straße zu Straße zurückzogen. Er hatte sein Bataillon nicht wiederfinden können und schlug sich nun unter unbekannten Genossen, die ihn mit auf das linke Ufer hinübergerissen hatten,
Weitere Kostenlose Bücher