Der Zusammenbruch
vor Furcht, sie könnten im nächsten Augenblick umgangen werden. Endlichblieb er ganz allein zwischen den Säcken liegen und dachte nur an sein Schießen, als die Soldaten, die sich einen Weg durch die Gärten und Höfe gebahnt hatten, durch eins der Häuser in die Rue du Bac heraustraten und sich weiter vorschoben.
In der Aufregung dieses letzten Kampfes hatte Maurice seit zwei Tagen nicht mehr an Jean gedacht. Und Jean hatte, nachdem er mit seinem Regiment zur Verstärkung der Division Bruat in Paris eingerückt war, ebenso keine Minute sich Maurices erinnert. Am Tage vorher hatte er sich auf dem Marsfelde und der Invaliden-Esplanade herumgeschossen. Heute nun war er erst gegen Mittag von dem Platze vor dem Palais Bourbon aufgebrochen, um die Barrikaden des Viertels bis zur Rue des Saints-Pères aufzuheben. Trotz seiner Ruhe regte ihn dieser brudermörderische Krieg unter so vielen ehemaligen Waffengefährten, deren glühendster Wunsch es war, nach all diesen Monaten der Abspannung endlich zur Ruhe zu kommen, allmählich auf. Die aus Deutschland zurückkommenden und wieder eingestellten Gefangenen konnten sich über Paris gar nicht beruhigen; und dazu brachten ihn noch die Erzählungen von den Grausamkeiten der Kommunarden außer sich, denn sie verletzten seine Anschauungen des Schicklichen und seinen Hang zur Ordnung. Er war der wahre Urgrund des Volkes geblieben, der verständige Bauer, der den Frieden herbeisehnte, damit er wieder an seine Arbeit gehen könnte, damit er wieder verdienen, wieder ins alte Gleis kommen könnte. Aber bei dem wachsenden Zorn, der auch seine zartesten Hoffnungen dahinriß, brachten ihn vor allem die Brandstiftungen zum Rasen. Häuser, Paläste in Brand stecken, weil sie sich nicht länger überlegen fühlten, o nein! Das ging doch zuweit! NurRäuber waren zu so etwas fähig. Und er, dem die Massenhinrichtungen am Tage vorher das Herz abgedrückt hatten, war nicht länger Herr seiner selbst, er wurde wild, die Augen traten ihm aus dem Kopfe, er stieß heulend um sich.
Rasend bog Jean mit ein paar Leuten seiner Korporalschaft in die Rue du Vac ein. Zuerst sah er niemand und glaubte, die Barrikade sei geräumt worden. Dann bemerkte er, wie sich ganz unten zwischen den Säcken noch ein Kommunard bewegte, der anlegte und in die Rue de Lille hineinfeuerte. Unter dem wütenden Zwange des Schicksals lief er hin und nagelte den Mann mit einem Bajonettstich an der Barrikade fest.
Maurice hatte keine Zeit gehabt, sich umzudrehen. Er stieß einen Schrei aus, als er den Kopf hob, und erkannte Jean. Die Brände leuchteten ihnen mit blendender Helligkeit.
»O Jean, mein alter Jean, bist du das?«
Sterben wollte er, darauf wartete er mit wütender Ungeduld. Aber sterben von der Hand seines Bruders, das war zuviel, das vergällte ihm den Tod, vergiftete ihn mit abscheulicher Bitterkeit.
»Bist du es denn, mein alter Jean?«
Wie vom Blitz getroffen, ganz ernüchtert blickte Jean auf ihn. Sie waren allein; die übrigen Soldaten hatten sich bereits auf die Verfolgung der Fliehenden begeben. Um sie herum flammten die Feuersbrünste höher empor, die Fenster spien mächtige Flammen aus, während man im Innern die brennenden Decken einstürzen hörte. Und Jean stürzte schluchzend neben Maurice nieder, er tastete an ihm herum und versuchte ihn aufzuheben, um zu sehen, ob er ihn nicht noch retten könne.
»Oh, mein Junge, mein armer Junge!«
8.
Als der von Sedan kommende Zug endlich nach zahllosen Aufenthalten gegen neun Uhr in den Bahnhof von Saint-Denis einlief, erhellte im Süden bereits ein starkes rotes Leuchten den Himmel, als ob ganz Paris in Brand stände. Diese Helligkeit wuchs um so mehr, je dunkler es wurde, und allmählich überzog sie den ganzen Horizont, wobei sie eine Schicht kleiner Wolken ganz in Blut tauchte, bis sie gegen Osten hin in der zunehmenden Dunkelheit verschwanden.
Henriette sprang vor Unruhe über den Widerschein der Feuersbrunst, die die Reisenden bereits während der Fahrt durch die Vorhänge über den dunklen Feldern bemerkt hatten, als erste aus dem Wagen, übrigens zwangen preußische Soldaten, die den Bahnhof militärisch besetzt hielten, alle Reisenden zum Aussteigen, und zwei von ihnen riefen auf dem Ankunftsbahnsteig in rauhem Französisch:
»Paris brennt ... Es geht nicht weiter, alles aussteigen ... Paris brennt, Paris brennt ...«
Das war für Henriette ein furchtbarer Schreck. Mein Gott! Käme sie wirklich zu spät? Da Maurice auf ihre letzten
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