Der Zusammenbruch
zu zittern und schien aus einem Alpdruck zu erwachen; und neuerdings von Angst ergriffen, in die sie der Gedanke an ihren Bruder wieder stürzte, flehte sie ihn noch ein letztes Mal um Hilfe an.
»Und wenn Sie also dann nichts für mich tun können, wollen Sie mir dann auch nicht helfen, nach Paris hineinzukommen?«
Otto schien abermals mit einer Handbewegung den ganzen Horizont umfahren zu wollen.
»Wozu denn? Morgen ist ja doch nichts mehr als ein Trümmerhaufen übrig!«
Und das war alles; sie stieg wieder von dem Laufsteg herunter, ohne ihm auch nur Lebewohl zu sagen, und floh mit ihrer kleinen Handtasche davon; er dagegen blieb noch lange da oben unbeweglich stehen, winzig, eingeschnürt in seine Uniform, von der Nacht verschlungen, und weidete seine Augen an dem fürchterlichen Feste, das ihnen dies Schauspiel des in Flammen vergehenden Babels bereitete.
Als Henriette den Bahnhof verließ, hatte sie das Glück, auf eine dicke Dame zu stoßen, die mit einem Fuhrmann verhandelte, der sie sofort nach der Rue Richelieu in Paris bringen sollte; und die bat sie solange und mit so rührenden Tränen, bis sie sich einverstanden erklärte, sie mitzunehmen. Der Kutscher, ein kleiner schwarzer Kerl, hieb auf sein Pferd los und öffnete wahrend der ganzen Fahrt nicht den Mund. Die Dame aber wurde nicht müde, ihr zu erzählen, sie hätte vorgestern, als sie ihren Laden abgeschlossen und verlassen hatte, den dummen Streich begangen, ihre Wertsachen in einem Sicherheitsschrank in der Mauer dort liegen zu lassen. Und nachdem nun die Stadt seit zwei Uhr brannte, wurde sie von dem einen einzigen Gedanken geplagt, wieder umzukehrenund ihre Habe selbst aus den Flammen zu holen. An der Sperre stand nur ein schläfriger Posten, und das Fuhrwerk konnte ohne große Schwierigkeiten durchkommen, um so mehr, als die Dame log und erzählte, sie habe ihre Nichte geholt und wolle nun mit der zusammen ihren Mann pflegen, der von den Versaillern verwundet worden sei. Große Hindernisse begannen erst in den Straßen, wo Barrikaden den Fahrweg alle Augenblicke so versperrten, daß sie fortwährend Umwege machen mußten. Am Boulevard Poissonnière erklärte der Kutscher endlich, er führe nicht weiter. Und die beiden Frauen mußten ihren Weg durch die Rue du Sentier, die Rue des Jéuneurs und das ganze Viertel um die Börse herum zu Fuß fortsetzen. Je näher sie den Befestigungen gekommen waren, desto mehr hatte der brandrote Himmel ihnen mit Tageshelligkeit geleuchtet. Jetzt waren sie ganz überrascht über die Ruhe und Stille in diesem Teile der Stadt, wohin nur ein leises Nachbeben des entfernten dumpfen Grollens drang. Von der Börse an stießen sie jedoch auf Schüsse und mußten sich an den Häuserseiten entlangdrücken. Und als die dicke Dame ihren Laden in der Rue de Richelieu unbeschädigt vorgefunden hatte, bestand sie unbedingt darauf, ihre Begleiterin auf den richtigen Weg zu bringen: Rue du Hasard, Rue Sainte-Anne und schließlich Rue des Orties. Einen Augenblick wollten Föderierte, von denen ein Bataillon noch die Rue Sainte-Anne besetzt hielt, sie am Weitergehen verhindern. Schließlich war es vier Uhr, es wurde bereits hell, als Henriette vor Aufregung und Müdigkeit, ganz erschöpft, das alte Haus in der Rue des Orties weit offen fand. Und nachdem sie die enge, dunkle Treppe hinaufgestiegen war, mußte sie noch hinter einer Tür eine Leiter hinaufklettern, die unters Dach führte. –
Maurice hatte sich auf der Barrikade der Rue du Bac zwischen den beiden Erdsäcken auf die Knie aufrichten können, und Jeans bemächtigte sich schon neue Hoffnung, da er geglaubt hatte, er hätte ihn an den Boden genagelt.
»Ach, mein Junge, lebst du noch? Hab' ich das nun gerade sein müssen, ich Dreckvieh ... Warte, laß mal sehen.«
Vorsichtig untersuchte er die Wunde bei der lebhaften Helligkeit der Feuersbrunst. Das Bajonett war dicht neben der rechten Schulter durch den Arm gegangen; das Schlimmste war aber, daß es dann zwischen zwei Rippen durchgegangen war und zweifellos die Lunge getroffen hatte. Der Verwundete atmete indessen ohne zuviel Beschwerde. Nur der Arm hing ihm schlaff herunter.
»Mein armer Alter, sei doch nicht so verzweifelt! Ich bin so ganz zufrieden, ich möchte am liebsten Schluß machen ... Du hast doch wahrhaftig genug für mich getan, denn ohne dich wäre ich längst irgendwo am Wege verreckt.«
Aber als Jean ihn so sprechen hörte, wurde er wieder von heftigem Schmerz gepackt.
»Willst du wohl still
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