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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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beiden Briefe nicht geantwortet hatte, war sie bei den immer mehr besorgniserregenden Nachrichten in eine so tödliche Unruhe verfallen, daß sie sich plötzlich entschloß, Remilly zu verlassen. Sie wurde bei Onkel Fouchard seit Monaten ganz schwermütig; die Besetzungstruppen wurden, je länger Paris seinen Widerstand hinauszog, desto anspruchsvoller und härter; und seitdem nun die Regimenter eins nach dem andern nach Deutschland zurückkehrten, erschöpften die Truppendurchzüge Stadt und Land von neuem. Als sie morgens beim Tagesgrauen aufgestanden war, um in Sedan die Eisenbahnzu erreichen, hatte sie den Hof ganz voller Reiter gefunden, die dort wirr durcheinander in ihre Mäntel gehüllt die Nacht geschlafen hatten. Sie waren so zahlreich, daß sie auf der Erde schlafen mußten. Als dann plötzlich das Horn ertönte, waren sie alle aufgestanden, schweigend, in ihre langen Faltenmäntel gehüllt und so eng, einer neben dem andern, daß es ihr den Eindruck erweckt hatte, als wohne sie der Auferstehung vom Schlachtfelde beim Klange der Posaune des Jüngsten Gerichts bei. Und auch in Saint-Denis hatte sie Preußen wiedergefunden, und sie waren es, die den niederschmetternden Ruf ausstießen:
    »Alles aussteigen, es geht nicht weiter ... Paris brennt, Paris brennt ...«
    Verwirrt stürzte Henriette mit ihrer kleinen Handtasche vorwärts, um Auskunft zu erlangen. Seit zwei Tagen wurde in Paris gefochten, die Bahn war abgeschnitten, die Preußen standen beobachtend da. Aber sie wollte unter allen Umständen weiter; und als sie des Hauptmannes ansichtig wurde, der die den Bahnhof besetzende Kompanie befehligte, da lief sie auf ihn zu.
    »Mein Herr, ich möchte zu meinem Bruder, um den ich in großer Sorge bin. Ich bitte Sie, ermöglichen Sie mir doch, weiterzukommen.«
    Überrascht blieb sie stehen, als sie den Hauptmann erkannte, sobald eine Gaslaterne sein Gesicht erhellte.
    »Sie sind es, Otto ... Oh! Seien Sie gut, nun das Schicksal uns noch einmal wieder zusammengeführt hat.«
    Otto Günther, ihr Vetter, war immer noch eng in seine Uniform eines Gardehauptmanns eingeschnürt. Er zeigte noch die trockene Miene eines hübschen, etwas auf sich haltenden Offiziers. Aber er kannte diese winzige Frau mitdem schmächtigen Aussehen, mit ihrem hellblonden Haar und dem niedlichen, sanften, unter dem Trauerschleier ihres Hutes verborgenen Gesicht gar nicht wieder. Erst ihre hellen, tapfer geradeaussehenden Augen brachten sie ihm wieder in die Erinnerung zurück. Er machte nur eine kleine Bewegung.
    »Sie wissen doch, ich habe einen Bruder, der Soldat ist,« fuhr Henriette hitzig fort. »Er ist in Paris geblieben, und ich bin so bange, daß er mit in diesen gräßlichen Kampf verwickelt ist... Ich flehe Sie an, Otto, machen Sie es mir möglich, meinen Weg fortzusetzen.«
    Nun brachte er es endlich über sich, zu sprechen.
    »Aber ich versichere Sie, ich vermag nichts ... Seit gestern verkehren keine Züge mehr; ich glaube, sie haben an den Wällen entlang die Schienen aufgerissen. Und ich habe weder ein Fuhrwerk, noch ein Pferd, noch einen Mann zur Verfügung, um Sie führen zu lassen.«
    Sie sah ihn an und konnte nur leise Klagen herausstammeln, als sie ihn zu ihrem Kummer so kalt, so entschlossen fand, ihr nicht beizustehen.
    »O mein Gott, Sie wollen also nichts unternehmen ... O mein Gott, an wen soll ich mich wenden?«
    Diese Preußen, die allmächtigen Herren, die mit einem Wort die ganze Stadt umgekehrt, hundert Wagen beschlagnahmt, tausend Pferde aus den Ställen gezogen hätten! Und er verweigerte sich ihr mit seiner hochnäsigen Siegermiene, als sei es für ihn ein Gesetz, sich nie in die Angelegenheiten der Besiegten zu mischen, die er ohne Zweifel als unsauber, seinen jungen Ruhm beschmutzend ansah.
    »Wenigstens«, fuhr Henriette fort, indem sie ruhig zu bleiben versuchte, »werden Sie dann doch wissen, was hier vorgeht, und mir das sagen können.«
    Er lächelte schwach, kaum sichtbar.
    »Paris brennt ... Sehen Sie! Kommen Sie hierher, hier sieht man es ganz deutlich.«
    Und er ging vor ihr her aus dem Bahnhof heraus und etwa hundert Schritte an den Schienen entlang, bis er an einen über den Bahnkörper gebauten Laufsteg kam. Als sie die enge Treppe hinaufgestiegen waren und sich dort oben befanden, rollte sich, während sie sich gegen die Brüstung lehnten, jenseits eines Abhanges die weite, kahle Ebene vor ihnen ab.
    »Sie sehen, Paris brennt ...«
    Es mochte halb zehn sein. Das rote Leuchten, das den

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