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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Ursache dieser Unentschlossenheit, dieser wachsenden Unfähigkeit wäre, die er seit Beginn des Feldzuges zeigte. Das hätte alles erklärt. Ein Steinchen im Fleische des Menschen, und Kaiserreiche zerbröckeln.
    Am Abend entstand im Lager nach dem Appell plötzlich eine Bewegung, Offiziere rannten hin und her und überbrachten Befehle, die den Abmarsch auf fünf Uhr am nächsten Morgen festsetzten. Für Maurice bedeutete das jähe Überraschung und Unruhe, denn er begriff, daß alles mal wieder abgeändert war: sie würden sich nicht auf Paris zurückziehen,es ging auf Verdun zur Vereinigung mit Bazaine. Es hieß, im Laufe des gestrigen Tages sei eine Depesche von diesem gekommen, in der er seine Rückwärtsbewegung ankündigte; und der junge Mann erinnerte sich an Prosper und den Jägeroffizier, die von Monthois kamen; vielleicht hatten die doch eine Abschrift dieser Depesche gebracht. Also trugen dank der ewigen Unbestimmtheit Marschall Mac Mahons die Kaiserin-Regentin und der Ministerrat in ihrer Furcht, den Kaiser nach Paris zurückkehren zu sehen, in ihrem starrköpfigen Willen, das Heer trotz allem als letztes Heilmittel für das Herrscherhaus vorwärts zu jagen, den Sieg davon. Und der jämmerliche Kaiser, der arme Mann, für den es in seinem Reiche keinen Platz mehr gab, der würde nun wie ein unnützer und hinderlicher Packen unter dem Gepäck seiner Truppen mitgeführt werden, dazu verurteilt, ein Spottbild seines kaiserlichen Haushaltes hinter sich her zu schleppen, seine Hundertgarden, seine Wagen, seine Pferde, seine Köche, seine Packwagen mit Töpfen und Champagner, den ganzen Prunk seines mit Bienen bestickten Staatsmantels, der nun auf den Heeresstraßen Blut und Schmutz der Niederlage zusammenfegen konnte.
    Um Mitternacht schlief Maurice noch nicht. Eine fieberhafte, mit bösen Träumen durchsetzte Schlaflosigkeit ließ ihn sich im Zelt hin und her wälzen. Schließlich kroch er heraus und fühlte sich erquickt, als er aufrecht stehend die kalte, vom Winde durchpeitschte Luft einatmete. Der Himmel hatte sich mit großen Wolken bedeckt, die Nacht war sehr dunkel, die Finsternis unendlich traurig, von den letzten erlöschenden Wachtfeuern der ersten Zeltreihe wie mit wenigen Sternen durchfunkelt. Und in dieser schwarzen, wie vom Schweigen erdrückten Nacht hörte man das langsame Atmen derhunderttausend Mann, die da im Schlummer lagen. Da beruhigten sich Maurices Ängste, und ein Gefühl von Brüderlichkeit kam über ihn, voll zarter Nachsicht gegen all diese schlafenden Wesen, von denen Tausende bald im Todesschlaf ruhen würden. Tapfer waren sie ganz gewiß! Sie besaßen kaum irgendwelche Manneszucht, stahlen und soffen. Aber was hatten sie nicht schon gelitten und wieviel Entschuldigungsgründe konnte man nicht für den Zusammenbruch des ganzen Volkes aufzählen! Die ruhmreichen Veteranen von Sebastopol und Solferino bildeten schon eine nur kleine Zahl und waren unter zu junge, für langen Widerstand ungeeignete Truppen verteilt. Diese vier in der Eile aufgestellten und umgeformten Korps, ohne festen Zusammenhang miteinander, bildeten eine Armee der Verzweiflung; sie stellten das Sühnopfer dar, das zum Altar geführt wurde, um den Zorn des Schicksals abzuwenden. Sie mußte ihr Golgatha bis zur Höhe erklimmen und für die Fehler aller mit Strömen ihres roten Blutes zahlen; aber sie erschien durch das Entsetzensvolle ihres Unglücks vergrößert.
    In diesem Augenblick kam über Maurice in der Tiefe der schaudernden Finsternis ein großes Pflichtgefühl. Er gab sich nicht länger prahlerischer Hoffnung auf das Erringen sagenhafter Siege hin. Dieser Marsch auf Verdun war der Gang in den Tod, und er nahm ihn in fröhlicher, starker Ergebung auf sich, da er sterben mußte.
     

4.
    Am 13. August, einem Dienstag, wurde das Lager um sechs Uhr morgens abgebrochen; die hunderttausend Mann der Heeresgruppe von Châlons gerieten in Bewegung und liefenbald mit ungeheurem Brausen wie ein unendlicher Strom dahin, der sich einen Augenblick zu einem See ausbreitet und dann seinen Lauf wieder aufnimmt; und für viele war es trotz der am Abend vorher umlaufenden Gerüchte eine große Überraschung, als sie sahen, daß man, statt die rückläufige Bewegung fortzusetzen, Paris den Rücken kehrte und wieder dort hinten hin nach Osten, dem Unbekannten entgegenzog.
    Um fünf Uhr morgens hatte das siebente Korps noch keine Patronen. Seit zwei Tagen erschöpfte sich die Artillerie beim Verladen von Pferden und

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