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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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erklären zu können, wie er seine Kompanie verloren habe. Wie alle übrigen kam er vor Hunger und Mattigkeit um; aber das brachte seine Verzweiflung nicht so auf den Höhepunkt; er litt am meisten darunter, daß er seit Reims sein Hemd nicht hatte wechseln können.
    »Denken Sie sich,« war gleich sein erster Seufzer, »in Vouziers haben sie mir mein Gepäck weggebracht. Die Schädel möchte ich ihnen einschlagen, diesen Irrsinnigen, diesen Lumpen, wenn ich sie nur fassen könnte! ... Nichts habe ich mehr, kein Taschentuch, kein Paar Strümpfe! Verrückt könnte man werden, auf Ehre!«
    Delaherche bestand darauf, ihn sofort mit zu sich zu nehmen. Aber dem widersprach er: nein, nein! er sah ja gar nicht mehr wie ein Mensch aus, er wollte niemand bange machen. Der Fabrikant mußte ihm schwören, daß weder seine Mutter noch seine Frau schon auf wären. Übrigens würde er ihm Wasser, Seife, Wäsche, kurz alles Nötige geben.
    Es schlug sieben Uhr, als Hauptmann Beaudouin gewaschen und abgebürstet, mit einem Hemd des Ehemanns unter der Uniform, in das mit grauem Holz getäfelte Speisezimmer mit seiner hohen Decke trat. Die alte Frau Delaherche war schon da, denn sie stand trotz ihrer siebzig Jahre immer mit Tagesanbruch auf. Sie war ganz weiß, ihre Nase wurde schon schärfer, und der Mund in dem langen, mageren Gesicht lachte nicht mehr. Sie erhob sich und lud den Hauptmann sehr höflich ein, vor einer der schon eingeschenkten Tassen Kaffee mit Milch Platz zu nehmen.
    »Vielleicht würden Sie nach all diesen Anstrengungen lieber etwas Fleisch und Wein mögen, mein Herr?«
    Dagegen erhob er lauten Einspruch.
    »Nein, danke tausendmal, gnädige Frau, etwas Milch mit Brot und Butter würde mir das Liebste sein.«
    In diesem Augenblick wurde eine Tür lebhaft geöffnet und Gilberte trat mit ausgestreckter Hand herein. Delaherche hatte ihr wohl Bescheid gesagt, denn für gewöhnlich stand sie nie vor zehn Uhr auf. Sie war groß, mit schmiegsamem, kräftigem Körper, schönen schwarzen Haaren und Augen und dabei rosiger Hautfarbe; ihr Gesicht zeigte ein etwas albernes, aber keineswegs boshaftes Lachen. Ihr Morgenrock aus ungefärbter Wolle mit roter Seidenstickerei kam aus Paris.
    »Ach, Herr Hauptmann!« sagte sie lebhaft, als sie dem jungen Manne die Hand schüttelte, »wie nett von Ihnen, daß Sie in unserer armen Provinzecke halt gemacht haben!«
    Sie war übrigens die erste, die über diesen unbedachten Ausdruck lachte.
    »Was? Bin ich dumm! Sie würden sicher lieber was anderes tun, als unter diesen Umständen durch Sedan zu kommen. Aber ich freue mich ja so, Sie wiederzusehen!«
    Wirklich strahlten ihre Augen vor Vergnügen. Und Frau Delaherche, der die Reden der bösen Zungen von Charleville bekannt sein mußten, beobachtete die beiden unausgesetzt mit starrer Miene. Der Hauptmann gab sich im übrigen nur als taktvoller Mensch, der dem Hause, in dem er ehemals so gastlich aufgenommen worden war, ein gutes Andenken bewahrt hatte.
    Sie frühstückten, und Delaherche kam sofort wieder auf seine Spazierfahrt vom Tage vorher; er konnte dem Gelüst, sie abermals zu erzählen, nicht länger widerstehen.
    »Wissen Sie, daß ich in Baybel den Kaiser gesehen habe?«
    Er schoß los; jetzt konnte ihn nichts mehr zurückhalten. Zuerst kam eine Beschreibung des Hofes, ein großes viereckiges Gebäude mit einem durch ein Gitter abgeschlossenen Hof im Innern, das Ganze auf einem Mouzon überragenden kleinen Hügel links an der Straße nach Carignan. Dann kam er auf das zwölfte Korps zurück, das er durchkreuzt hatte, als es zwischen den Weinbergen an den Hügeln lagerte, die Truppen, prächtig, im Sonnenschein leuchtend, so daß ihr Anblick ihn mit mächtiger, patriotischer Freude erfüllt hatte.
    »Da stand ich nun, Herr Hauptmann, als der Kaiser mit einemmal aus dem Hofe trat, wo er hatte haltmachen lassen, um sich auszuruhen und zu frühstücken. Er hatte einen Überzieher über seine Generalsuniform geworfen, obwohl es in der Sonne sehr heiß war. Ein Diener trug hinter ihm einen Klappstuhl ... Ich fand, er sah nicht gut aus, ach nein! Er ging so gebückt und so langsam, sein Gesicht war so gelb, kurz: ein kranker Mann ... Und das überraschte mich auch nicht, denn der Apotheker von Mouzon, der mir riet, bis Baybel weiterzugehen, der hatte mir schon erzählt, ein Adjutant wäreangelaufen gekommen und hätte Medizin gekauft ... na, Sie wissen wohl, Medizin gegen ...«
    Die Anwesenheit seiner Mutter und seiner Frau hielten ihn

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