Der Zusammenbruch
Leuten der Kompagnie erblickte. Wenn er seinen Freund nicht wiederfinden konnte, wollte er sich wenigstens seinem Regiment wieder anschließen und im Zelte schlafen. Hauptmann Beaudouin hatten sie noch nicht wiedergesehen; der war für sich allein verschlagen und anderswo gescheitert; der Leutnant versuchte seine Leute wieder zusammenzubringen und durch vergebliche Fragen den Standort seiner Division zu erfahren. Aber je weiter er in die Stadt hineinkam, desto kleiner wurde die Kompanie, anstatt zuzunehmen. Ein Soldat lief mit irrsinnigen Gebärden in eine Herberge und kam nicht wieder. Drei andere blieben vor der Tür eines Ladens stehen, wo sie von Zuaven festgehalten wurden, die einem Fäßchen Branntwein den Boden eingeschlagen hatten. Viele lagen schon im Rinnstein, andere wollten weiter und fielen vernichtet, blöde zusammen. Chouteau und Loubet stießen sich mit dem Ellbogen an und verschwanden dann sofort in der Tiefe einer dunklen Gasse hinter einer dicken Frau, die ein Brot trug. So waren bei dem Leutnant nur noch Pache und Lapoulle und ein Dutzend Kameraden.
Am Fuß des Bronzestandbildes Turennes machte Rochas gewaltige Anstrengungen, um sich mit offenen Augen aufrechtzuhalten. Als er Jean erkannte, sagte er leise:
»Ach, Sie sind's, Korporal! Und Ihre Leute?«
Jean machte eine ausweichende Bewegung, wie um zusagen, das wüßte er nicht. Pache aber wies auf Lapoulle und antwortete, von einem Tränenstrom überwältigt:
»Da sind wir, wir sind nur noch zwei Mann ... Möge der liebe Gott sich unser erbarmen; das ist zu jammervoll!«
Der andere, der Freßsack, sah mit einem gefräßigen Blick nach Jeans Händen, außer sich darüber, daß er sie jetzt immer leer fand. Vielleicht hatte er in seiner Schlaftrunkenheit geträumt, der Korporal sei zur Verteilung gegangen.
»Verfluchte Geschichte!« brummte er, »muß man sich wieder mal den Bauch zusammenschnüren!«
Der Hornist Gaude, der auf den Befehl zum Sammeln zu blasen wartete, glitt mit einem Rutsch aus und schlief auf dem Rücken ausgestreckt ein. Einer nach dem andern fielen sie alle um und schnarchten mit geballten Fäusten. Nur der Sergeant Sapin mit seiner kleinen spitzen Nase in dem blassen Gesicht hielt die Augen noch weit offen, als lese er vom Horizont dieser unbekannten Stadt sein Schicksal ab.
Nun gab auch Leutnant Rochas dem unwiderstehlichen Zwang nach, sich auf die Erde zu setzen. Er wollte einen Befehl geben.
»Sergeant, es muß ... es muß ...«
Er fand keine Worte mehr, der Mund war von Müdigkeit wie verklebt, und plötzlich streckte er sich, vom Schlaf übermannt, gleichfalls aus.
Auch Jean fürchtete aufs Pflaster niederzufallen und ging weiter. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Bett zu suchen. Auf der andern Seite des Platzes hatte er in einem Fenster des Wirtshauses Zum goldenen Kreuz den General Bourgain-Desfeuilles gesehen, der schon in Hemdsärmeln bereit war, zwischen seine schönen weißen Bettücher zu rutschen. Was sollte er sich noch quälen und sich weiter Gewaltantun? Da empfand er eine plötzliche Freude, ein Name sprang in seinem Gedächtnis empor, der des Tuchfabrikanten, bei dem Maurices Schwager angestellt war: Herr Delaherche, jawohl! das war es ja. Er hielt einen alten Mann an, der vorüberging.
»Herr Delaherche?«
»Rue Maqua, dicht an der Ecke der Rue au Beurre, ein schönes großes Haus mit Bildhauereien.«
Dann lief der alte Mann hinter ihm her und holte ihn ein.
»Sagen Sie mal. Sie sind ja 106er ... Wenn Sie Ihr Regiment suchen, das liegt beim Schloß, da unten ... Ich hab' eben den Oberst getroffen, Herrn von Vineuil, den ich ganz gut kannte, als er noch in Mézières stand.«
Aber Jean ging mit einer wütenden, ungeduldigen Gebärde weiter. Nein, nein! jetzt, wo er sicher war, Maurice wiederzufinden, wollte er nicht auf der harten Erde schlafen. Aber im Innern quälten ihn Gewissensbisse, denn er sah den Oberst mit seiner hohen Figur vor sich, wie er trotz seines Alters hart gegen jede körperliche Müdigkeit gleich seinen Leuten im Zelte schlief. Schleunigst lief er in die Große Straße und verlor sich abermals in dem wachsenden Gewirr der Stadt, um sich schließlich an einen kleinen Jungen zu wenden, der ihn nach der Rue Maqua brachte.
Ein Großonkel des jetzigen Delaherche hatte dort im letzten Jahrhundert eine wirklich sehenswerte Fabrik gebaut, die seit hundertundsechzig Jahren nicht aus der Familie gekommen war. So gibt es in Sedan noch Tuchfabriken aus den ersten Jahren
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