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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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das im Zimmer herrschte, fand er eine treffende Ähnlichkeit zwischen ihr und Maurice, die merkwürdige Ähnlichkeit von Zwillingen, die wie die Verdoppelung eines Gesichtes wirkt. Sie war nur noch kleiner, noch zarter und sah mit ihrem etwas großen Munde, den seinen Zügen unter ihrem wunderschönen Blondhaar, das das helle Blond reifen Hafers trug, noch gebrechlicher aus. Was sie vor allem von ihm unterschied, waren ihre grauen Augen, in deren ruhiger Tapferkeit die ganze Heldenseele ihres Großvaters, des Helden der großen Armee, wieder auflebte. Sie sprach wenig, ging ohne jedes Geräusch, aber mit steter Geschäftigkeit und einer lächelnden Sanftheit umher, so daß die Luft, wenn sie an einem vorbeiging, sich wie eine Liebkosung anfühlte.
    »Warten Sie, kommen Sie hier herein, Herr Jean,« wiederholte sie. »Gleich ist alles fertig.«
    In seiner Rührung über diesen brüderlichen Empfang stotterte er und fand keine Worte, um ihr auch nur zu danken. Seine Augenlider schlossen sich auch schon, und in der unüberwindlichen Schläfrigkeit, die ihn gepackt hatte, sah er nur noch eine Art Nebel, in dem sie undeutlich, von der Erde losgelöst, umherschwebte. War das nicht eine entzückende Erscheinung, diese hilfreiche junge Frau, die ihm mit solcher Selbstverständlichkeit zulächelte? Es kam ihm vor, als berührte sie seine Hand, als faßte er die ihrige, so klein und fest, aber von der Zuverlässigkeit eines alten Freundes.
    Von diesem Augenblick an verlor Jean jedes klare Bewußtsein für die Dinge um ihn her. Sie waren im Speisezimmer, Brot und Fleisch standen auf dem Tische; aber er fand nicht mehr die Kraft, einen Bissen zum Munde zu führen. Da war ein Mann, der auf einem Stuhle saß. Dann erkannte er Weiß, den er bei Mülhausen gesehen hatte. Aber er begriff nicht, was der Mann in so kummervoller Weise, mit so langsamen, müden Bewegungen erzählte. In einem vor dem Ofen aufgeschlagenen Feldbett schlief Maurice bereits mit unbeweglichen Zügen wie ein Toter. Und Henriette war eifrig an einem Ruhebett beschäftigt, auf das sie eine Matratze gelegt hatte; sie brachte ein Schrägpfühl, ein Kopfkissen und Decken; dann breitete sie mitgeschickten, raschen Händen weiße Laken, wundervolle Laken, weiß wie Schnee, darüber.
    Ach! diese weißen Laken, diese so heißersehnten weißen Laken! Jean sah nichts mehr als sie. Seit sechs Wochen hatte er sich nicht mehr ausgezogen, in keinem Bett mehr geschlafen. Ein Gelüst, eine kindliche Ungeduld, eine unwiderstehlicheLeidenschaft überkam ihn, in diese Weiße, diese Frische zu gleiten und sich darin zu verlieren. Sowie sie ihn allein gelassen hatten, stand er barfuß im Hemde und legte sich mit dem befriedigten Grunzen eines sich wohlfühlenden Tieres nieder. Das blasse Morgenlicht fiel durch das hohe Fenster; und als er schon ganz vom Schlaf überwältigt die Augen noch einmal halb öffnete, hatte er wieder eine Erscheinung Henriettes, einer unbestimmteren, wesenloseren Henriette, die auf den Fußspitzen hereinkam, um auf den Tisch neben ihm eine Wasserflasche und ein Glas zu setzen, die vergessen worden waren. Sie schien einige Sekunden dort stehenzubleiben und sie beide, ihren Bruder und ihn, mit ihrem stillen, so unendlich gütigen Lächeln zu betrachten. Dann zerging sie. Und er schlief in seinen weißen Laken wie ein Toter.
    Stunden, Jahre vergingen. Traumlos, ohne Bewußtsein des schwachen Klopfens ihrer Adern bestanden Jean und Maurice gar nicht länger. Zehn Jahre oder zehn Minuten, die Zeit hat aufgehört zu zählen; es war, als verlange der Körper für seine Überanstrengung Genugtuung und fände sie in dem Aufhören ihres ganzen Wesens. Plötzlich fuhren beide unter demselben Antrieb wach in die Höhe. Was war denn los? Was ging da vor, wie lange schliefen sie denn schon? Dieselbe bleiche Helligkeit strömte durch das hohe Fenster. Sie fühlten sich zerbrochen, die Gelenke steif, die Glieder matter und im Munde eine größere Bitterkeit als beim Niederlegen. Glücklicherweise konnten sie erst eine Stunde geschlafen haben. Sie wunderten sich auch gar nicht. Weiß auf dem gleichen Stuhl vorzufinden; er schien mit seiner gleichbleibenden, niedergeschlagenen Miene auf ihr Erwachen zu warten.
    »Donner ja!« stammelte Jean, »wir müssen doch wohl aufstehen und vor Mittag wieder zum Regiment gehen.«
    Mit einem leisen Schmerzensschrei sprang er auf die Fliesen und zog sich an.
    »Vor Mittag!« wiederholte Weiß. »Wissen Sie wohl, daß es sieben Uhr abends

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