Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
medizinischen Beweise sind für die Geschworenen unverständlich. Zwar können die Kontrahenten die Obduktionsberichte selbst nicht anzweifeln. Aber sie interpretieren sie unterschiedlich. Nach wie vor verficht die Verteidigung die Hypothese vom plötzlichen Kindstod, kann aber die Gutachten der Anklage nicht erschüttern.
Im Kreuzverhör des Anklägers bestätigt Joe Tinning, daß Marybeth bei ihrer ersten Vernehmung die Ermordung Tami Lynnes gestanden habe. Er bekräftigt, er halte zu seiner Frau, werde aber ihr zuliebe keinen Meineid leisten. Marybeth hat es nichts genützt, ihr Mordgeständnis zu widerrufen.
Beinahe hätte der Prozeß am Ende noch eine dramatische Wende genommen und dem Ankläger einen triumphalen Sieg erbracht. Beim Staatsanwalt meldet sich ein Mann namens Harley Spooner. Er hat zusammen mit Marybeth als Schulbusfahrer gearbeitet. Zwischen beiden hatte sich ein Liebesverhältnis entwickelt. »Wir haben uns Abend für Abend getroffen«, berichtet Spooner, »wir haben es in der Garage gemacht, im Auto, im Bus, wo, das war egal.« Marybeth wurde dann von Spooner schwanger. Er ist der Vater von Tami Lynne, das hat ihm Marybeth mehrmals bestätigt.
War schon der Tod des Adoptivkindes Michael ein Beweis gegen ein familiär bedingtes »Todes-Gen«, so ist die Vaterschaft Spooners ein zweiter Beweis. Da die anderen Beweise jedoch erdrückend genug sind, verwendet der Staatsanwalt Spooners Aussage nicht mehr.
Die Geschworenen beraten gründlich und verantwortungsvoll. Sie sprechen Marybeth schuldig, bestätigen aber die Anklage auf vorsätzliche Tötung, also auf Mord, nicht. Sie einigen sich auf die Formulierung »Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben«.
Per Richter verurteilt Marybeth zu zwanzig Jahren Haft.
Der Fall Marybeth Tinning zeigt beispielhaft, wie subjektive und objektive Ursachen einen Serienmörder hervorbringen und ihm seine Taten ermöglichen.
Zweifellos ist Mary Tinning eine psychisch kranke Frau, deren seelische Verstörung auch der Umwelt nicht verborgen geblieben ist. Ihre Stimmungen sind polarisiert. Extrem zeigt sich ihre heitere Redseligkeit, extrem ihre Depression, extrem ihr Zorn. Überhaupt wird sie häufig von Wutausbrüchen heimgesucht. »Sie schwelte vor Zorn«, berichtete eine Klassenkameradin, als zornig charakterisierte sie ihr Psychotherapeut und sprach von bedrohlicher und zerstörerischer Aggressivität. Auch ihr Mann Joe bekam diese Wut zu spüren, wenn sie schreiend, fauchend und mit den Füßen stampfend ihren Willen durchzusetzen versuchte. Ein anderer Psychiater sprach von psychotischem Zorn, der durch traumatische familiäre Krisen ausgelöst werde, beispielsweise durch den Tod von Vater oder Mutter während der Schwangerschaft. Wenn die soeben Mutter Gewordene überzeugt ist, von Vater oder Mutter nicht anerkannt, nicht geliebt worden zu sein, könne es passieren, daß sie ihren Zorn auf das Baby überträgt und es tötet. Das Gefühl, selbst unliebenswert und wertlos zu sein, erzeuge einen Dauerzustand von Zorn.
Dieses Gefühl von Wertlosigkeit hatte Marybeth nach eigenem Empfinden durch ihren Vater erfahren. Als junges Mädchen glaubte sie sich von ihrem Vater gegenüber ihrem Bruder zurückgesetzt, ständig kritisiert, ja verachtet. Nichts konnte sie ihm recht machen. Dieses Gefühl verließ sie auch nicht, als sie selbst Mutter war. Sie sah sich als unfähig, es ihren Kindern »recht zu machen«. Sie empfand es als Demütigung, wenn ihr Vater sie mit der Fliegenklatsche schlug und sie als minderwertig beschimpfte. Das Tragische im Verhältnis zwischen Tochter und Vater war, daß Marybeth ihn nicht haßte, sondern liebte – aus dem Drang heraus, es ihm »recht zu machen«, damit sie endlich von ihm akzeptiert wurde. Diese widerspruchsvolle Abhängigkeit vom Vater hatte eine groteske Folge. Ihr Vater starb wenige Tage vor der Geburt ihres dritten Kindes. Marybeth hatte sich in den Wahn hineingesteigert, die Seele des Vaters würde in diesem Kind – sie hoffte auf einen Sohn – wiedergeboren werden. Aber sie brachte eine Tochter zur Welt, Jennifer. Jennifer starb eine Woche später. Zwei Wochen danach tötete Marybeth zum ersten Mal: den zweijährigen Joseph; nach wiederum zwei Wochen die fünfjährige Barbara.
Kinder, die mißachtet oder gedemütigt werden, entwickeln meist ein verstärktes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Beachtung. Marybeth zeigte frühzeitig ein auffälliges Verhalten – sie erzählte abstruse Lügengeschichten, war
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