Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
jähzornig, wechselte ständig ihre Freundschaften. Stärkste Genugtuung verschaffte sie sich schließlich durch die Geburt und die Tötung ihrer Kinder. Eine Mutter, die nicht verzweifelt, wenn ihr wieder ein Kind stirbt, und die unverzagt die nächste Schwangerschaft auf sich nimmt – eine solche Mutter wird allmählich zu einer ebenso heroischen wie tragischen Gestalt. Marybeth genoß diese Rolle immer gieriger, bot sie ihr doch Ersatz für die Enttäuschungen ihrer Kindheit. Ein Gerichtsmediziner nannte Marybeth einen »Sympathie-Junki, süchtig nach Mitgefühl«, ein Psychologe sprach vom »Münchhausen-Syndrom«. Damit werden u. a. Frauen bezeichnet, »die ihre Kinder absichtlich krank machen, ihnen giftige Substanzen verabreichen, sie zu ersticken versuchen«, um danach »als Heldinnen in einem medizinischen Drama stellvertretend Befriedigung« zu finden.
Für Marybeths Taten wurden vielerlei Erklärungen gesucht. Selbsthaß, Persönlichkeitsspaltung oder eine nach der Geburt eines Kindes ausgelöste Psychose – aber das alles läßt sich schwer beweisen. Nur eines erscheint sicher: Solche Serienmörder haben nicht nur ein einziges Motiv, es gibt immer ein Ursachengeflecht. Und keinesfalls entsprang die Tötung der Kinder nur einer »Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben«, wie es die Jury mitleidsvoll formuliert hatte, um Marybeth eine Verurteilung wegen Mordes zu ersparen. Neueste Forschungen, so schreibt Joyce Egginton in ihrem Bericht, »haben die weitverbreitete Meinung entkräftet, daß Frauen, die wiederholt ein eigenes Baby ersticken, spontan und unüberlegt handeln, nur weil sie das Weinen nicht länger ertragen können. Was die Forscher beobachtet haben, ist ein durchaus geplantes Verbrechen.« Nach dem Mord, so erklärt einer dieser Verhaltensforscher, produzieren die mörderischen Mütter ein Blackout über ihre Tat, weil sie sich nicht daran erinnern wollen.
So komplex und irrational auch Marybeths Motive, so schwer ihre psychischen Störungen auch gewesen sein mögen – erst schwerwiegende Störungen im sozialen und medizinischen Bereich erlaubten Marybeth den serienmäßigen Mord.
Leichenschauarzt Dr. Sullivan schrieb nach dem Prozeß selbstkritisch: »Rückblickend scheint mir das Hauptproblem darin zu liegen, daß jeder Einzelfall verschiedenen Personen oder Behörden bekannt war, daß es aber keine zentrale Sammelstelle für Informationen gab. Keiner will die Schuld dafür übernehmen, und wahrscheinlich läßt sich dafür auch keine einzelne Person oder Behörde verantwortlich machen. Es lag an uns allen zusammen, am ärztlichen Leichenbeschauer, am Sozialamt, am Krankenhauspersonal, an den Registraturen der Krankenblätter. Alle zusammen haben wir davon gewußt. Und alle zusammen haben wir versagt.«
Daß die Strukturen des amerikanischen Sozial- und Gesundheitswesens mitschuldig sind, wurde hier deutlich offenbar. Föderalistische Dezentralisierung und ein übertriebener Datenschutz verhinderten, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Mordfällen zu erkennen. Das Sozialamt ging frühzeitigen Hinweisen von Kinderschwestern und Bürgern nicht nach. Ärzte behielten ihren Verdacht für sich, weil sie Schwierigkeiten fürchteten, wenn sie ihn beweisen sollten. Lieber schrieben sie eine nichtssagende Todesursache auf den Totenschein.
Aber noch ein anderer Umstand begünstigte Marybeth.
Er ist in der Ideologie der amerikanischen Gesellschaft begründet. Joyce Egginton beschrieb ihn so: »Es gab innerhalb des Systems keinen Weg, die Tragödie zu verhindern – nicht, wenn die Mutter äußerlich ganz der Vorstellung einer fürsorglichen liebenden Mutter entsprach.«
Kindestötung, so sagte sie weiter, sei in Amerika nur sehr wenig erforscht worden. Mutterschaft werde als etwas Heiliges betrachtet. Die Vorstellung von einem solchen Verbrechen hätte diesen Glauben befleckt. Kein Verantwortlicher sei bereit gewesen, »das Unvorstellbare zu vermuten und das Nächstliegende zu untersuchen.«
Dr. DiMaio sah es ebenso: »Ärzte – und vor allem Kinderärzte – sind solchen Fällen gegenüber sehr naiv. Sie glauben, daß alle Mütter für ihre Kinder sorgen, und finden es schwer zu akzeptieren, daß es auch Mütter gibt, die das nicht tun.«
Und der Pfarrer und Psychotherapeut beklagte, daß Sozialarbeiter, Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern, Geistliche, alles Profis, auch alle miteinander versagt hätten, weil sich niemand um die psychisch kranke Frau gekümmert habe.
So
Weitere Kostenlose Bücher