Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
deckte der Fall Mary Tinning auch die institutioneilen und ideologischen Bedingungen auf, die dieses Verbrechen begünstigten. Es traf schmerzhaft Lebensnerven der Gesellschaft Denn der Serienmörder war diesmal eine Frau und eine Mutter.
Haß
Als der zweiundvierzigjährige Literaturlehrer Andrej Tschikatilo das Warenhaus betritt, weiß er noch nicht, daß an diesem 22. Dezember 1978 sein Sterben beginnt – zuerst sein moralisches, dem ein Jahrzehnt später das physische durch Genickschuß folgen wird.
Tschikatilo, ein großer kräftiger Mann mit hängenden Schultern und einem langen dürren Hals, schiebt sich mühsam durch das Gedränge. Mit seinen schwermütigen Augen hinter der Hornbrille wirkt Tschikatilo geistesabwesend und verloren. Und er wirkt nicht nur so. Wieder hat ihn ein Gefühl tiefster Verzweiflung überflutet, eine Welle ohnmächtiger Wut über seine Ohnmacht. Vor einer Stunde haben ihn vier seiner Schüler im Park überfallen und mit Fäusten seinen Kopf traktiert. Seine Schüler! Denen er Tolstoi und Dostojewski nahegebracht hat! Er hat die Schüler erkannt, und sie wissen, daß er sie erkannt hat. Und sie haben ihn dennoch geschlagen und verhöhnt. Sie sind sicher, daß sie ihn gefahrlos mißhandeln können. Sie haben ihn in der Hand, seit er sich nachts in den Schlafsaal geschlichen und sich am Geschlechtsteil eines Jungen zu schaffen gemacht hatte. Er ist ihnen ausgeliefert. Immer und immer wieder werden sie ihm ihre Verachtung zeigen und ihre Macht einprügeln. Vielleicht werden sie ihn sogar töten.
Ich brauche ein Messer, sagt er sich, ich muß mich verteidigen können. In der Abteilung für Industriewaren kauft Tschikatilo ein Klappmesser.
In der Lebensmittelabteilung holt er eine Flasche süßen georgischen Wein, der soll ihn heute abend beruhigen.
Dann verläßt er das Kaufhaus.
Aber weder der Erwerb des Messers noch die Aussicht auf den Wein lösen Tschikatilos nervöse Spannung. Er, der Akademiker, der Zeitungskorrespondent, der Kommunist, er, den seine Parteitreue eines Tages zum Führer der Sowjetunion werden läßt – er das Opfer verrohter Schüler! Die Erinnerung an den Überfall saugt weitere Bilder seiner Demütigungen ins Bewußtsein: Sein Lehrvortrag, das Klassenzimmer voll schwatzender Schüler, die lachen, rauchen, sich raufen, die seine Aufforderung zu sozialistischer Disziplin mit dem Ruf »Halt den Schnabel, du Gans!« erwidern. Dieser Spitzname kränkt ihn zusätzlich, was kann er dafür, daß er einen so langen Hals hat.
Tschikatilo will noch nicht heimkehren. Er mag sich nicht den ganzen Abend das törichte Alltagsgeschwätz seiner Frau anhören, die vielleicht sogar noch mit ihm schlafen will. Dazu hat er schon gar keine Lust. Fenja ist viel zu einfallslos, ohne jede Phantasie, bieder und prüde. Es würde für ihn nur wieder eine neue Demütigung, er weiß es doch. So verständnisvoll sich Fenja auch gegen über seiner häufigen Impotenz zeigt, insgeheim, da ist er sich sicher, macht sie sich über ihn lustig. Manchmal wundert er sich, daß er überhaupt mit Fenja zwei Kinder zustande gebracht hat. Nicht mehr lange, und seine Tochter Ljudmila macht ihn zum Großvater. Großvater! Er grinst in sich hinein. Da würde sich auch nichts ändern. Seinem sexuellen Verlangen nach ist er ein Mann in den besten Jahren. Nur es zu verwirklichen, das mißlingt meistens. Bei Fenja neuerdings immer. Und bei anderen Frauen immer öfter. Aber heute vielleicht nicht. Heute hat er Wut. Heute muß er sich rächen für die Schmach, die ihm seine Schüler im Park angetan haben. Rache! Das baut Spannung ab. Er wird sich ein Objekt dafür suchen. Es lungern genug Prostituierte herum, die ihm jeden Wunsch erfüllen.
Tschikatilo strafft sich. Er hat einen Entschluß gefaßt. Er wird sich wieder ins Gleichgewicht bringen.
Er lenkt seine Schritte in Richtung Meschewoi-Gasse. Dort liegt seine Datsche – eine Bruchbude in einem Drecksviertel. Sie hat nur einen Raum. Und in dem einen Raum steht nur ein Bett. Daneben ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal.
Meine Hundehütte, nennt er sie manchmal für sich selbst.
Aber auch: mein Paradies. Niemand weiß von diesem Besitz, auch Fenja nicht. Es ist seine geheime Zuflucht, Eldorado seines zweiten Lebens. Hier gibt er sich seinen Phantasien hin, hier sucht er sie sich zu erfüllen, mit Prostituierten, halbwüchsigen Mädchen, verwahrlosten Kindern. Freilich, die goldenen Bilder seiner Tagträume schwärzen sich dann in der Wirklichkeit ein.
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