Der Zwang zur Serie. Serienmörder ohne Maske.
den sechs bisher bekannten Fällen ähneln. Bei Wittenberge sind der zwölfjährige Kurt Gnirks, bei Potsdam der achtjährige Wolfgang Metzdorf und bei Brandenburg der elfjährige Erwin Wischnewski unter gleichen Umständen tot aufgefunden worden.
Bei allen nun bekannten neun gleichartigen Todesfällen waren die polizeilichen Ermittlungen sehr bald eingestellt worden, weil – ausgenommen ein Fall mit Verdacht auf Pilzvergiftung – ein natürlicher Tod vorzuliegen schien. Keine Verletzungen an den Toten, kein Anzeichen von Gewalt. Die Polizei hatte deshalb in einigen Fällen auf eine gerichtsmedizinische Klärung verzichtet, in einigen anderen Fällen hatte die gerichtsmedizinische Obduktion kein Anzeichen für einen unnatürlichen Tod ergeben.
So bleibt für Kriminalrat Lobbes sowohl das Motiv als auch die Ausführung der vermutlichen Mordtaten ein Rätsel. Die bisherigen Ermittlungen lassen nur eine einzige Schlußfolgerung zu: Wenn es einen Mörder gibt, muß er – möglicherweise aus beruflichen Gründen – sehr viel unterwegs sein. Das Gebiet, in dem die Toten gefunden wurden, ist großräumig und liegt zwischen Lübeck, Wismar und Rostock im Norden sowie Brandenburg und Potsdam im Süden und wird westlich von einer Linie zwischen Wittenberge, Ludwigslust und Schwerin begrenzt.
Ein Täter, der viel unterwegs ist – dieses einzige Merkmal ist viel zu vage, um auf einen raschen Erfolg der Fahndung hoffen zu können. Da stößt die Polizei auf einen vierzigjährigen Geschäftsreisenden, dem nachgewiesen werden kann, daß er in der Nähe mehrerer Leichenfundorte gewesen ist. Er wird verhaftet. Die Polizei triumphiert zu früh. Der Mann erhängt sich in der Zelle. Und das Morden geht weiter.
Wenige Tage später nämlich, am 23. März 1935, wird der elfjährige Gustav Thomas in einer Kiefernschonung bei Wittenberge tot aufgefunden. Er liegt da, als sei er friedlich eingeschlafen. Jetzt weiß Lobbes: Der Täter ist noch immer am Werk, und es ist derselbe wie in den anderen neun Fällen. Aber im Unterschied zu jenen neun Fällen gibt es diesmal einen konkreten Hinweis auf den Täter, Am Tag seines Verschwindens war Gustav Thomas zusammen mit einem älteren Mann gesehen worden, einem Mann in dunklem Mantel mit einem merkwürdig emporgebogenen breitkrempigen Hut.
Diese immer noch recht vage Personenbeschreibung wird zur Fahndung ausgeschrieben.
Inzwischen sammelt Lobbes auch Berichte über Sittlichkeitsdelikte, die in den letzten Jahren aus dem betreffenden Gebiet gemeldet worden sind. Er arbeitet Dutzende von Fällen durch. Mehrmals trifft er auf Aussagen mißbrauchter Kinder, die auf immer den gleichen Täter hinweisen: den Mann im schwarzen Mantel mit dem breitkrempigen Hut.
Eines Tages erhält Lobbes eine Meldung der Gendarmeriestation in Bad Doberan. Hier habe kürzlich ein Mann einem achtjährigen Jungen ein Geschenk versprochen und ihn in den Wald gelockt. Der Mann sei als durchreisender Uhrmacher Adolf Seefeldt bekannt. Die Täterbeschreibung: schwarzer Mantel und breitkrempiger Hut.
Nun kann Lobbes endlich die Fahndung nach einem konkreten Verdächtigen, dem Uhrmacher Adolf Seefeldt, auslösen. Sie wird im Deutschen Kriminal-Polizeiblatt Nr. 212 am 3. April 1935 veröffentlicht. Lobbes hat sich Akten über Seefeldt beschafft, die auch Fotos des Sexualstraftäters enthalten. So kann der Fahndung nach Seefeldt auch ein Foto beigegeben werden.
Seefeldt sind die öffentlichen Aufrufe der Fahndungsbehörde nicht entgangen. Er weiß, die Treibjagd auf ihn hat begonnen. Und daß sein jahrelanges Wandern von Ort zu Ort, sein Gang von Tür zu Tür, seine zahllosen Sexualdelikte und auch die mißglückten Kontaktversuche zu Kindern ihn zu einem bekannten Mann gemacht haben.
Früher oder später wird sich der Ring der Verfolger um ihn schließen. Mehrmals sieht er Flugzeuge über Wäldern kreisen. Aus Zeitungen erfährt er von Suchtrupps, die unterwegs sind. Er will Zeit gewinnen und wandert südostwärts, meist auf abgelegenen Landstraßen, in die Wald- und Sumpfgebiete der Unteren Havel. Hier hofft er, untertauchen zu können. In den kleinen Dörfern hat vielleicht niemand etwas von der Jagd auf Adolf Seefeldt gehört.
An einem Apriltag befindet sich Seefeldt in Wutzetz, einem kleinen Ort nahe dem Rhinkanal. Er hat einem Bauern Uhren repariert und erhält Bratkartoffeln und Wurst als Lohn. Er sitzt gerade am Küchentisch beim Essen, als der für den Ort zuständige Gendarm seine Runde macht und die Küche
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