Der zweite Gral
hervorragend aussah. Mit ihren vollen Lippen, dem strahlenden Lächeln und dem frischen Teint wirkte sie wie Anfang vierzig, auch wenn sie tatsächlich schon die fünfzig überschritten hatte. Sie gehörte zu dem Typ von Frauen, die auch im reiferen Alter noch mädchenhaft wirkten. Das leicht ergraute Haar und die goldumrandete Bifokalbrille änderten daran nichts.
»Donna Greenwood«, sagte Briggs mit seinem charmantesten Lächeln. »Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber zu meiner großen Freude stelle ich fest, dass Sie sich kein bisschen verändert haben.«
Donna erwiderte sein Lächeln, doch in ihrer Miene lag ein Hauch von Bitterkeit. »Ich habe mich verändert, Thomas«, sagte sie. »Vielleicht nicht äußerlich, aber hier.« Sie tippte sich auf die Brust. »Tief hier drinnen hat sich etwas verändert. Ich sah meine Freunde in Schottland sterben. Ich sah aus nächster Nähe, wie sie von Trümmern erschlagen wurden oder im Feuer umkamen. Ich habe mitgeholfen, sie umzubringen. Ich hoffe nur, dass unser Projekt dieses Opfer rechtfertigt.«
44.
L ara und Emmet standen vor dem Jeddah Sheraton und blickten in beide Richtungen der North Corniche. Viele Fußgänger schlenderten über die Uferpromenade, und die Restaurants waren bis auf den letzten Platz belegt. Auf der Straße drängte sich dichter Verkehr.
Ein alter Opel Kadett hielt am Straßenrand in zweiter Reihe, und ein Mann mit einem Zigarettenstummel im Mundwinkel stieg aus. Er verharrte hinter dem Wagen, musterte Emmet und Lara einen Moment lang und nickte ihnen dann zu.
»Das muss er sein«, sagte Emmet. Er und Lara zwängten sich zwischen zwei parkenden Limousinen hindurch und stiegen ein – Lara hinten, Emmet auf dem Beifahrersitz.
»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie in Begleitung kommen«, sagte der Mann zu Emmet, während er losfuhr.
»Sie haben nicht danach gefragt. Ist das ein Problem für Sie?«
»Für mich nicht, aber vielleicht für Gamoudi. Er mag keine Überraschungen.«
»Der Gamoudi, den ich kenne, fürchtet keine Überraschungen. Und vor einer Frau fürchtet er sich schon gar nicht«, sagte Emmet. Damit traf er genau den richtigen Ton. Der Fahrer ging nicht weiter auf Laras Anwesenheit ein.
Sie fuhren die Uferstraße ein paar Kilometer entlang und bogen dann stadteinwärts ab. Nach einer Weile sah Lara vonder Rückbank aus, wie die Zigarettenkippe im Mundwinkel des Fahrers zu zucken begann.
»Ich glaube, wir werden beschattet«, sagte er mit Blick in den Innenspiegel. »Seit wir vom Hotel losgefahren sind, folgt uns ein Wagen. Wundern Sie sich also nicht, wenn es gleich ein bisschen ungemütlich wird. Ich schlage vor, Sie schnallen sich an, falls Sie es nicht schon getan haben.«
Tatsächlich trat er an der nächsten Kreuzung so heftig aufs Gaspedal, dass die Reifen kreischten; gleichzeitig riss er das Lenkrad nach rechts. Lara konnte sich gerade noch am Seitengriff festhalten, um zu verhindern, dass sie in die Ecke geschleudert wurde; dann ging der Wagen auch schon in die nächste Kurve. Mit aufheulendem Motor jagte er eine schmale Gasse entlang.
»Noch mal festhalten!«, rief der Fahrer. Lara spürte, wie die Fliehkraft sie in die andere Ecke der Sitzbank quetschte, und schrie auf.
Der Opel holperte über ein Kopfsteinpflaster, dann über einen Bordstein in eine Einfahrt. Auf einem Hinterhof hielt der Fahrer und stellte Motor und Licht ab. »Wir werden hier ein paar Minuten warten«, sagte er. »So lange, bis ich sicher bin, dass wir unsere Verfolger abgeschüttelt haben. In der Zwischenzeit sollten wir das Auto wechseln.«
Sie stiegen in einen alten Chrysler um. Eine Viertelstunde später fuhren sie vom Hinterhof. Von da an verlief die Fahrt ruhig.
Sie fuhren nach Osten stadtauswärts. Schon bald wichen die großen, verwahrlosten Industrieanlagen zu beiden Seiten der Straßen dem spärlichen Bewuchs der arabischen Wildnis. Am Straßenrand erkannte Lara ein Schild mit der Aufschrift: Mekka – 80 km. Doch schon nach etwa zehn Kilometern bogen sie nach Süden ab, in eine schmale asphaltierte Straße ohne Laternen. Zwanzig Minuten später hielten sie vor einem kleinen Bauernhof, durch dessen Fenster Licht schimmerte.
Sie stiegen aus und wurden von kühler Nachtluft in Empfang genommen. Von überall her war das Zirpen von Grillen und Zikaden zu hören. Auf einer eingezäunten Weide erkannte Lara im Mondlicht die Umrisse mehrerer Ziegen.
»Hier entlang«, sagte der Fahrer und ging
Weitere Kostenlose Bücher