Der zweite Mord
verdorben.
Sie marschierten durch das breite Entree, das durch das gesamte Erdgeschoss führte. Sie wechselten kein Wort, als sie an der Cafeteria vorbeigingen und das Gebäude durch rückwärtige Glastüren verließen. Barbro Löwander senkte gegen den schneidenden Wind die Schultern und nahm Kurs auf ein älteres Gebäude aus dunklen Ziegeln. Über ihren Köpfen verband ein verglaster Gang den Zentralkomplex mit dem alten Hauptgebäude. In diesem Gang waren eilige, weiß gekleidete Personen zu sehen, geschützt von Wind und Wetter. Irene hatte das sichere Gefühl, dass sie es bei diesem Verhör nicht leicht haben würde.
Im Haus angekommen, sauste Barbro eine abgetretene Treppe hinauf, ohne auf die Kriminalinspektorin zu achten oder das Wort an sie zu richten. Irene rannte verbissen hinterher. Im zweiten Stock blieb Barbro stehen, und Irene hörte das Rasseln eines Schlüsselbundes. Barbro Löwander schloss auf und sagte tonlos:
»Treten Sie ein. Ich habe das Büro von jemand leihen dürfen, der in Urlaub ist.«
Das Zimmer war großzügig. Zwei hohe Fenster gingen auf den hinteren Teil des botanischen Gartens. Mitte Februar war das allerdings auch keine berauschende Aussicht, aber man konnte sich leicht vorstellen, wie es sein würde, wenn im Frühling alles zu knospen begann und grün wurde.
»Sind in diesem Gebäude nur Büros?«, fragte Irene.
»Weitgehend«, entgegnete Barbro.
Sie hängte ihren Mantel an einen Haken an der Wand, und Irene hängte ihre Lederjacke daneben.
»Waren hier früher Stationen?« fuhr Irene fort.
»Nein, die Krankenpflegeschule.«
Keine Kosmetikmarke der Welt hätte vermocht, aus Barbro Löwander eine Schönheit zu machen, dachte Irene plötzlich. Der griesgrämige und bittere Zug ließ sich auch von der dicksten Schminke nicht verdecken. Sie nahm einen Stoß Papier von einem Stuhl und setzte sich. Gleichzeitig versuchte sie, sich von Sverker Löwanders Exfrau ein Bild zu machen.
Barbro ließ sich auf einen Bürostuhl vor einem riesigen Computer sinken. Sie zog ein Paket starker Filterzigaretten aus der Tasche und schüttelte ungeduldig eine heraus. Offenbar herrschte im Krankenhaus Rauchverbot, denn sie zündete sie nicht an, sondern hielt sie nur nervös zwischen den Fingern.
»Ich verstehe nicht, warum ich mich in etwas hineinziehen lassen soll, was in der Löwander-Klinik passiert ist!«, rief sie.
Zu ihrer Verwunderung sah Irene, wie ihr Tränen in die Augen traten. Vorsichtig fragte sie:
»Kannten Sie die ermordeten Krankenschwestern?«
»Nein. Ich habe die Klinik seit elf Jahren nicht mehr betreten! Ganz zu schweigen davon, dass ich mit dem Personal Umgang gepflegt hätte. Ich habe mit allem gebrochen … damals.«
»Bei der Scheidung?«, ergänzte Irene.
Barbro nickte nur. Irene schaute in ihre graublauen Augen und sah in ihnen einen großen Schmerz. Das erstaunte sie in Anbetracht der Tatsache, dass die Scheidung schon so lange zurücklag. Vielleicht handelte es sich bei dieser Trennung immer noch um eine klaffende Wunde, die man besser nicht berührte. Irene beschloss, die Sache vollkommen anders anzugehen.
»Ich wollte mit Ihnen nicht über die Scheidung, sondern über die Morde reden. In dieser Sache brauchen wir Ihre Hilfe.«
Irene ließ ihrem Gegenüber Zeit, das Gesagte zu verdauen. Barbro saß jetzt nicht mehr so verspannt da, aber ihre Stimme klang immer noch misstrauisch, als sie fragte:
»Meine Hilfe?«
»Ja. Sie haben doch einige Jahre in der Löwander-Klinik gearbeitet und waren mit Sverker verheiratet … wie lange?«
»Wir waren dreizehn Jahre lang verheiratet. Und ich habe sechs Jahre in der Löwander-Klinik gearbeitet. Ich habe nach Julias Geburt angefangen, nur noch halbtags zu arbeiten …«
Sie verstummte und presste die Lippen zusammen. Offenbar fand sie, dass sie zu mitteilsam war. Diese Ansicht konnte Irene nicht teilen. Sie versuchte es mit einer neuen Frage.
»Wie waren Ihre Schwiegereltern?«
Barbro konnte ihre Verwunderung nicht unterdrücken. Schließlich zuckte sie mit den Achseln und sagte:
»Ich sehe nicht, was das mit den Morden in der Löwander-Klinik zu haben sollte. Genauso wenig wie ich verstehe, was mich das alles angeht.«
Sie verstummte und schien nachzudenken.
»Sverkers Mutter starb, als er neun Jahre alt war. Mein ehemaliger Schwiegervater Hilding starb in dem Jahr, bevor Sverker und ich geschieden wurden. Er wurde neunundachtzig Jahre alt. Er war bis in sein letztes Lebensjahr hinein ein echter Kraftmensch.
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