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Der zweite Tod

Der zweite Tod

Titel: Der zweite Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Scholten
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alten Leuten das Leben um ein bis zwei Jahre verkürzen kann, doch Annies Kaffee schmeckte so, wie er in der Fernsehwerbung aussah. Barbro lobte und lobte.
    »Ich war ja auch Sekretärin«, erklärte Annie lachend in reinem Reichsschwedisch.
    Der Tisch war zum Frühstück gedeckt. Barbro hatte seit dem Aufstehen noch nichts gegessen und spürte, wie sich ihr Magen über den Anblick freute. Annie hatte frisch gebacken. Erst jetzt entdeckte sie den Nymphensittich, der frei auf der Fensterbank hockte und sie kritisch musterte. Einen Käfig gab es in der Küche nicht.
    »Seid ihr wegen der Skinheads hier?«, fragte die alte Frau.
    »Skinheads?«
    »Diese Typen, die hier durchs Treppenhaus laufen. Seit Wochen geht das so.«
    »Das ist ja interessant«, fand Barbro. Das war es wirklich, denn die anderen Nachbarn hatten davon nichts bemerkt. Jetzt ergab sich die Frage, ob die Skinheads wirklich im Treppenhaus herumliefen oder nur in Annies Kopf. In ihrer Anfängerzeit war Barbro einmal auf einen freundlichen alten Herrn hereingefallen, der nicht mehr zwischen dem unterscheiden konnte, was er wirklich erlebt und was er im Fernsehen gesehen hatte. »Was sind das denn für Leute, und was tun sie?«
    »Ganz jung sind sie nicht mehr. Sie waren immer zu dritt. Ihre Haare waren ganz kurz. Und sie trugen Lederjacken. Wie man es im Fernsehen immer sieht.«
    »Aha«, sagte Barbro. Annie litt an altersbedingten Assoziationen. »Und das waren richtige Skinheads? Neonazis?«
    »Richtige Nazis waren das natürlich nicht. Solche hätte man früher verprügelt.« Annie von Krusenstjerna blickte zum Fenster hinaus. »Der Führer hat uns ja alle betrogen«, seufzte sie aus heiterem Himmel. Ihre Hand zitterte.
    Barbro musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen, und trank von ihrem Kaffee. »Wer hätte das ahnen können!«, bemerkte sie dann, um eine Reaktion zu zeigen.
    »Was denn?« Annie schien zurück zu sein.
    »Dass der Führer ein Betrüger ist.«
    »Welcher Führer?« Die Bemerkung hatte sie irritiert. »Möchtest du ein Brot essen? Ich habe es selbst gebacken.«
    Barbro nahm gerne an. Die Küche war so sauber, dass sie sich hier sogar den Blinddarm herausnehmen ließe. An der Wand hing eine alte Fotografie. Annie bemerkte Barbros Interesse.
    »Das war meine Urgroßmutter, 1886.«
    Urgroßmutter balancierte einen weißen Hut mit einem halben Meter Durchmesser auf ihrem Kopf und saß als Beifahrerin mit ihrer Begleiterin in einem Autoskooter. Die beiden waren kurz davor, von einem allein fahrenden Herrn mit Sommerstrohhut unredlich gerammt zu werden. Der glattrasierte Mann war ein Hallodri, das konnte man auf Anhieb erkennen. Ehrbare Männer trugen damals dicke Backen- und Kinnbärte. Barbro hätte nicht gedacht, dass es schon so lange Autoskooter gab.
    »Was haben diese drei Männer denn gemacht?«
    Der Sittich flatterte auf den Küchentisch und bediente sich von dem Brot auf Annies Teller. Annie nannte den Sittich Olof, weil ihm eine Kopffeder ins Gesicht ragte. Das erklärte auch, warum er Barbro so klassenfeindlich beäugte.
    »Sie standen hier im Gang bei der Treppe. Ich habe sie durch den Spion beobachtet. Sie kamen einmal mitten am Tag und einmal nachts.«
    »Wann war das?«
    »Das ist bestimmt schon zwei Wochen her.«

31
    Ein schiefergrauer Vollbart rahmte das freundliche Lächeln des Botschafters ein. Sofi hatte gestutzt, wie widerstandslos er ihr seine Hilfe angeboten hatte. Sie saß inmitten von schwedischen Designermöbeln aus hellem Holz und blickte zum Fenster hinaus. Die Botschaft lag in der Parallelstraße zu Nuras Haus direkt am Nil. Jenseits des Flusses lief die Corniche, die lange Uferpromenade. Dort saßen abends heimliche Paare und hielten Händchen. Früher war Sofi gerne dort gewesen, wenn sie allein sein wollte. Einmal war ein französisches Pärchen dort gesessen und hatte ein wenig gekuschelt, während hundert ägyptische Paare fasziniert hingestarrt und gekichert hatten.
    Die Einrichtung wirkte grotesk, wenn man die Häuserfront von der Corniche aus betrachtete, als wäre ein Glutwind über das Vierte! hinweggefegt und hätte nur das Mauerwerk übriggelassen. Und natürlich das Mobiliar der schwedischen Botschaft, das die Pyramiden überdauern würde.
    Sofi saß seit neun Uhr am Schreibtisch. Nach einem halben Jahr bei der Taktischen stand ihr erster eigener Einsatz bevor. Sie verspürte leichtes Heimweh nach Kjell, aber auch Freude, ihn los zu sein. Als er sie im Frühsommer unerwartet in seine Gruppe

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