Der Zweite Tod
war in jedem Detail anders. Als hätte dich jemand am Telefon nur instruiert, dass ein Brieföffner im Spiel war. Zum Beispiel glauben wir nicht daran, dass Carl Petersson um ein Uhr nachts mit einem Brieföffner im Rücken den Computer aus der Ecke selbst hervorgekramt und aufgebaut hat. Wahrscheinlich stand ihm auch der Sinn nicht danach, das Geschirr zu spülen oder einen Schlüssel für seine Wohnung nachmachen zu lassen.«
»Aber der Computer stand aus einander genom men in der Ecke!«, schrie sie. »Er hat am Morgen den Schreibtisch geputzt und ein gerie ben.«
»Und das Telelon hast du also irgendwo in Frankreich aus dem Zug geworfen. Bleibst du dabei?«
»Was sollte ich denn mit dem Scheißding? Es sendet nicht mal drei hundert Meter weit!«
38
Am Mor gen war Nur as neun zehnjäh rige Nichte Rahi gekommen und hatte Linda bei der Hand genommen. Da hatte Linda noch nicht geahnt, dass Rahi sie in den nächsten vier Stunden nicht mehr losl assen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich solch ein Vakuum zwischen ihren Handflächen gebildet, dass Linda beim Lösen ein lautes Plopp zu hören glaubte. Rahi hatte sie aus der Wohnung gezogen, in einen dunklen Taxibus ohne Fenster verfrachtet und später über den Bazar gezogen. Dann hatte Linda im kop tischen Vier tel alle sechs hundert Ver wandten, Nachbarn und Freunde kennenlernen und umarmen dürfen. Rahi war sehr stolz gewesen, eine europäische Freundin mit blonden Haaren zu besitzen, und alle, denen sie vorgestellt wurde, hatten es für wert befunden, einmal hineinzufassen. Andererseits konnte sich Linda nicht erinnern, dass ihre Haare je so ordentlich auf ihrem Kopf gelegen hatten wie jetzt. Die hatten einfach irgendwann aufgegeben und hingen jetzt nur noch herab. Sie war froh, dass sie nicht so hellblonde Haare hatte wie die Frau, die in Johns Haus wohnte. Wenn die Leute hier das gesehen hätten, hätte wohl jeder eine Strähne behalten wollen oder am besten gleich die ganze Frau.
Am frühen Nachmittag hatte Linda es geschafft, sich loszureißen. Seitdem zog sie durch die Stadt, ohne zu wissen, wo sie sich befand. Überall hatten die Menschen Teppiche auf den Straßen ausgebreitet und sich zum Gebet und zum Palaver darauf niedergelassen. Vor einer Moschee stand ein Pulk von Frauen und unterhielt sich angeregt. Linda blieb stehen, um die Frauen zu beobachten. Sie war vorhin durch die riesige Ibn-Tulun-Mo-schee geschlendert und auf das Minarett geklettert. Aber in so eine kleine Stadtteilmoschee traute sie sich nicht hinein. Auf einmal wurde eine Frau auf Linda aufmerksam. Ihr Blick blieb an ihr haften. Die anderen machten sich gerade auf hineinzugehen. Sie winkte Linda einl adend herbei. Sie dachte wohl, dass Linda auch hineinwollte. Linda bewegte sich unsicher auf den Eingang zu. Sich jetzt abzuwenden, wäre unhöflich gewesen.
Die Frau konnte ja sehen, dass sie keine Muslimin war. Linda hatte vorhin ein Kopftuch ausprobiert, war sich damit aber blöd vor gekom men. Die Frau er kannte Lindas Unsicher heit, aber auch ihre Neugier und sagte einige Worte zu ihr, deren beru hi gende Wir kung eintrat, obwohl Linda nichts davon verstand. Es war ihr schon den ganzen Tag lang aufgefallen, dass das Temperament und die heftigen Gesten nicht bedeuteten, dass die Menschen hier feine Dinge übersahen.
In dem kargen Vorraum unterzog die Frau Lindas Arme und Füße einem Waschritual, auf das sie der Gesellschaftskundeunterricht in der neunten Klasse gut vorbereitet hatte. Obwohl sie sich davor nicht sündig gefühlt hatte, fühlte sie sich danach gereinigt. Aber Nura hatte ihr gestern beim Picknick am Ufer des Fajum-Sees zwischen den Enten bereits erklärt, dass ihr ohnehin alle Sünden vergeben würden, weil sie ja viel geliebt hatte. Den Kopten diente die Bibel vor allem als Katalog für Begründun gen al ler Art.
Geliebt hatte sie al lerdings. Wahrschein lich hatte noch keiner so geliebt wie sie.
Im Gebetsraum bildeten die Män ner einen ei genen Block und waren offensichtlich durch einen anderen Eingang hereingekommen. Linda kniete in der drittletzten Reihe und begann sich erst fremd zu fühl en, als es losging. Aber nur für einige Augenblicke. Es ging auf und nieder, eine Ewigkeit lang. Wie schnell die Menschen inner lich um schalten konnten! Vor wenigen Minuten hatten sie sich draußen noch lautstark unterhalten. Das Auf und Nieder gefiel ihr gut, Linda tat es bald mit Hingabe.
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Sofi träumte, dass sie ins Bett machte. Erwachsene Menschen erwachen dadurch.
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