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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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über die Ufer und verschlingt ganz Wien mit einer einzigen riesigen Welle.
    Â»So blau, so blau«, kreischt Frau Fitz und rotiert formlos mit den Armen, während der Stephansdom unter den Wassermassen verschwindet.
    Kurz danach muss auch der Musikverein daran glauben.
    Der österreichische Bundespräsident stirbt im Schlaf.
    Marlen reißt sich die Bettdecke vom Kopf und brüllt: »Töten! Töten und ausstopfen! Ich halte das nicht mehr aus mit der verrückten Alten!«
    Alles, was von Wien bleibt, ist die etwas höher gelegene Irrenanstalt Steinhof.
    Â»Guten Morgen, die Damen!«
    07 : 04 . Schwester Cornelia steht in der Tür. Vor ihr ein Rollwägelchen mit Waschschüssel und Handtüchern, hinter ihr, leicht geduckt, ein junger Mann. Das Wägelchen ist mir wohlbekannt, der junge Mann nicht. Schwester Cornelias Stimme klingt wie immer, wenn sie Frühschicht hat und »Guten Morgen, die Damen!« sagt: wie ein Kontrabass, den jemand an einen Verstärker angeschlossen hat. Das Gesicht des jungen Mannes erinnert mich an eine Piccoloflöte.
    Schwester Cornelia dreht an dem kleinen Knopf neben der Tür, mit dem man den Lautsprecher an der Decke regeln kann. Der Donauwalzer wird gurgelnd leiser, dann säuft er ab.
    Â»Töten«, murmelt Marlen schwach und zieht sich die Decke wieder über den Kopf, Frau Fitz lässt ihre Propellerarme sinken und verwandelt sie in flatternde Elfenflügel. »So blau, so blau«, singt sie unermüdlich, nur ohne Orchesterbegleitung und mit deutlich leiserer Stimme, die Hüften bewegen sich geschmeidig im Dreivierteltakt.
    Â»Guten Morgen«, sagt Schwester Cornelia noch einmal, aber ohne Verstärker. Dann greift sie nach dem Piccolo und schiebt ihn mit einer energischen Bewegung in den Raum.
    Â»An die Arbeit, Zivi Nummer 11 !«

5
    Es ist ja nicht so, dass er mir nicht leidtun würde, aber was soll ich machen?
    Soll ich ihn streicheln, wie es seine Mutter getan hat, früher, als er noch klein war? So übers Haar, ganz zart, soll ich das machen?
    Früher war sein Haar wahrscheinlich sehr fein. Ein feiner heller Flaum auf dem zerbrechlichen Köpfchen, das ist noch gar nicht so lange her, geschätzt achtzehn, neunzehn Jahre. Jetzt sind die Haare dicht und glatt und ein bisschen zu lang, wenn Sie mich fragen, vor allem vorne. Die Stirnfransen hängen ihm über die Augen, vor ein paar Minuten waren sie noch in einer fluffigen Welle quer über die Stirn geföhnt, jetzt nicht mehr. Schnurgerade, feuchtglänzend. Das kommt vom Schweiß. Angstschweiß wahrscheinlich, vielleicht auch diese Art von Schweiß, die einem aus allen Poren tritt, wenn man von einer tiefen Scham durchglüht wird. So oder so: Beim Militär wäre das nicht passiert. Da hätten sie ihm die Fransen längst abrasiert.
    Der Föhn: konfisziert.
    Der Schweiß: sportlich.
    Nicht besonders angenehm, keine Frage, aber seiner Mutter wäre das trotzdem lieber gewesen, das mit dem Militär, weil sie nämlich schon Schlimmes geahnt hat. Mütter haben da so ein Gespür, müssen Sie wissen, und wenn ihn seine Mutter jetzt sehen könnte, dann würde sie sich nur eines wünschen: dass ihr kleiner Liebling mit einem Stahlhelm auf dem rasierten Schädel und einer Feuerwaffe Typ MG 3 in den Händen über den Kasernenhof robbt, statt mit dem Waschlappen an einer nackten alten Frau herumzufummeln.
    Â»Ausziehen! Waschen!«, hat Schwester Cornelia zu ihm gesagt und auf mich gezeigt. »Vorderseite zuerst! Oben anfangen, unten aufhören, dazwischen nichts auslassen!«
    Das war vor fünf Minuten. Jetzt ist oben gerade dran, unten kommt noch, dazwischen wartet schon.
    Schweißtropfen auf seiner Stirn, dichtgedrängt unter den Fransen. Anderswo tropft es auch, irgendwo weit entfernt von der R ESIDENZ , da weint eine Mutter und weiß nicht, warum, aber sie hat da so ein Gespür.
    Zeit der Unschuld.
    Vorbei.
    Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern findst du nit / Ihn hat es weggerissen, er liegt zu meinen Füßen / Will mir die Hand noch reichen, derweil ich fummeln tu / Kann ihm die Hand nit geben, der Lappen lässt’s nicht zu.
    Später beim Frühstück werde ich Suzanna von dem Lied erzählen, das ich leise vor mich hingesungen habe, während der neue Zivi an mir herumgefummelt hat. Die erste Ganzkörperwäsche seines Lebens. Die erste am Körper einer Frau, die

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