Der Zwerg reinigt den Kittel
Nachtschwester nerven, weil der Ausschlag wieder so juckt. Sie wird nie mehr die Hände zerkratzen, die sie eincremen.
Rote Punkte. Grüne Punkte.
Beim Durchblättern damals habe ich zu Schwester Olga gesagt, dass ich das sehr erfreulich finde mit den grünen Punkten. Viele Bilder in dem Buch mit den Malvorlagen sind mit einem roten Punkt markiert und darunter mit einem grünen, bei manchen ist es eine ganze Kette von Punkten, immer abwechselnd rot und grün.
Rot: schon vergeben.
Grün: wieder frei.
Sehr erfreulich, habe ich gesagt, dass es Leute gibt, die nicht für immer in der R ESIDENZ bleiben. Leute, die sich von Pflegestufe zwei wieder hinuntergearbeitet haben zu Pflegestufe eins oder zu gar keiner.
Suppe löffeln, Treppen steigen, aufs Klo gehen â du schaffst das jetzt alles wieder ohne Hilfe und kannst nach Hause gehen. Du packst deine paar Sachen in einen kleinen Rollkoffer und bittest eine von den Schwestern, dir ein Taxi zu bestellen. Dann verabschiedest du dich von der Schildkröte und dem Eichhörnchen, mit denen du ein paar Monate oder Jahre zusammengelebt hast, und fährst heim. In deine Wohnung. Oder in das Haus von deinem Sohn, er lebt dort mit deiner Schwiegertochter und deinen Enkeln, sie haben alle gemeinsam ein Zimmer für dich freigeräumt, mit Blick auf den Garten. Jetzt sitzt du im Taxi oder im familienfreundlichen Kombi deines Sohns, es ist ein herrlicher Sommertag, du beugst dich aus dem Fenster, und da fliegt sie, deine Schwalbe. Sie fliegt zurück in das Malbuch, wo sie einen grünen Punkt bekommt, damit sich jemand anderer mit ihr identifizieren kann.
Das ist schön, habe ich zu Schwester Olga gesagt, dass es Leute gibt, die wieder heimgehen.
»Ja«, hat sie gesagt und matt gelächelt. »So kann man es auch nennen: heimgehen.«
Ich klopfe an die Tür von Zimmer Nummer fünf, dreimal. Dann sage ich laut das Codewort.
Ein trockenes Husten, Schritte. Schmtz, schlurf, schmtz, schlurf. Die Tür öffnet sich von innen, aber nur einen schmalen Spalt, zum Glück bin ich ein Regenwurm, ich schlängle mich durch den Spalt, davor schiebe ich noch schnell den Regler von Winterzauber auf zehn.
Schon komisch: Irgendwo auf der Welt sitzen Leute und basteln ungestraft Lufterfrischer aus Chemikalien, die ab einer gewissen Konzentration krebserregend sind.
7
Ein Rasenmäher ist nur ein Rasenmäher, aber in den falschen Händen kann er zur tödlichen Waffe werden. Der Mann im grünen Overall hat solche Hände. Jetzt schiebt er wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag den Rasenmäher durch die Grünanlage der R ESIDENZ und tötet alles, was lebt und höher ist als drei Millimeter.
Gänseblümchen zum Beispiel, frisch aus dem Boden geschlüpft. Rübe ab!
Oder Klee. Wenn du ein kleiner Klee bist, dann erwischt dich der Rasenmäher dort, wo bei uns Menschen die Weichteile sind. Zack!
Marienkäfer: vier Millimeter. Er wird nie wieder Glück bringen.
Raupe: drei Komma fünf Millimeter. Sie wird nie ein Schmetterling werden.
Und jetzt stellen wir uns die Nasenspitze eines sympathischen Maulwurfs vor, der gerade ein bisschen frische Luft schnappen will.
Ist das nicht schrecklich?
Nein?
Ist Ihnen egal?
Mir auch.
Früher war mir das auch egal, aber seit ich mich mit einem Regenwurm identifiziere, sehe ich die Welt aus einer ganz neuen Perspektive.
Regenwürmer sind knapp drei Millimeter hoch, ich bin einer von den wenigen Ãberlebenden, und das aus Zufall. Weil ich zufällig nicht als Marienkäfer oder Gänseblümchen geboren worden bin. Weil ich zufällig nicht als Nasenspitze eines Maulwurfs zur Welt gekommen bin.
Sowas macht nachdenklich.
Sie auch?
Das freut mich.
Der Mann im grünen Overall mäht den Rasen systematisch von auÃen nach innen, die Grünanlage der R ESIDENZ ist kreisförmig, in der Mitte ein graues Rechteck mit roter Umrandung. Vierzig Quadratmeter Beton, eingezäunt. Auf dem Beton steht ein Klettergerüst, der Zaun ist zwei Meter hoch und rot gestrichen. Könnte ein Kinderspielplatz sein. So einer, wie ihn Leute planen und bauen, die keine Kinder mögen.
Seniorenbewegungsanlage.
Hat der Hilfspfleger zu mir gesagt. So nennt es der Heimleiter, manchmal sagt der Heimleiter auch Seniorenaktivitätenplatz, alle anderen sagen Der Käfig.
Das hat der Hilfspfleger letzte Woche zu mir gesagt, an meinem zweiten Morgen in der R ESIDENZ , es war
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