Des Teufels Alternative
Stunden weniger als die Sonne. Als sie sich bereits mitten über dem Atlantik befanden, erklärte der Flugkapitän mit höflichem Bedauern seinen Passagieren, die einen Direktflug nach Boston gebucht hatten, die Maschine müsse »aus betrieblichen Gründen« auf dem Dulles International Airport von Washington kurz zwischenlanden und werde dann nach Boston weiterfliegen.
Erst um 21 Uhr Moskauer Zeit – in Westeuropa war es 19 Uhr – gelang es Jefrem Wischnajew, zu einem persönlichen Gespräch zu Maxim Rudin vorzudringen, obwohl er bereits den ganzen Tag über das für einen Samstag höchst ungewöhnliche Treffen lautstark gefordert hatte.
Der alte sowjetische Diktator erklärte sich damit einverstanden, seinen Chefideologen im Konferenzraum des Politbüros im zweiten Stock des Arsenalgebäudes zu empfangen.
Wischnajew brachte Marschall Nikolai Kerenski als Verstärkung mit, mußte aber feststellen, daß auch Rudin seine Verbündeten, Dmitri Rykow und Wassili Petrow, hinzugezogen hatte.
»Wie ich sehe, scheinen nur wenige dieses herrliche Frühlingswochenende auf dem Lande zu genießen«, stellte der Parteitheoretiker bissig fest. Rudin zuckte mit den Achseln.
»Ich hatte zwei Freunde zum Abendessen eingeladen«, sagte er. »Was führt Sie um diese Zeit in den Kreml, Genossen?«
Weder Mitarbeiter noch Wachen waren bei dieser Unterredung zugegen. Die fünf mächtigsten Männer der Sowjetunion saßen sich unter den Kugellampen, die von der hohen Decke herabhingen, gegenüber. Sie gerieten in immer erregtere Konfrontation.
»Verrat!« zischte Wischnajew. »Verrat, Genosse Generalsekretär.«
Das Schweigen war unheimlich, bedrohlich.
»Wessen Verrat?« fragte Rudin. Wischnajew beugte sich über den Tisch, bis ihre Gesichter kaum noch einen halben Meter voneinander entfernt waren.
»Der Verrat zweier dreckiger Juden aus Lwow«, fauchte er. »Der Verrat zweier Männer, die jetzt in Berlin hinter Gittern sitzen. Zweier Männer, deren Freilassung eine Bande von Mördern an Bord eines Tankers in der Nordsee fordert. Der von Lasareff und Mischkin verübte Verrat.«
»Ich gebe zu«, antwortete Rudin langsam, »daß die Ermordung von Flugkapitän Rudenko eine …«
»Wollen Sie nicht auch zugeben«, unterbrach Wischnajew ihn drohend, »daß diese beiden Männer Juri Iwanenko ermordet haben?«
Maxim Rudin mußte sich beherrschen, nicht zu Wassili Petrow hinüberzusehen. Irgend etwas war schiefgegangen. Irgendwo gab es eine undichte Stelle.
Petrow preßte die Lippen zusammen, bis sie nur noch einen schmalen Strich bildeten. General Abrassow kontrollierte jetzt das KGB für ihn, und Petrow wußte, daß der Kreis der Eingeweihten klein war, sehr klein sogar. Seiner Überzeugung nach konnte nur Oberst Kukuschkin der Verräter sein: der Mann, der als Iwanenkos Leibwächter versagt hatte und der es danach nicht einmal geschafft hatte, die Mörder seines Herrn zu liquidieren. Nun mußte er versucht haben, seine Karriere – und sein Leben – dadurch zu retten, daß er auf die andere Seite übergelaufen war und sich Wischnajew anvertraut hatte.
»Dieser Verdacht besteht allerdings«, gab Rudin vorsichtig zu. »Aber er ist noch nicht bewiesen.«
»Soviel ich weiß, ist das eine bewiesene Tatsache!« sagte Wischnajew. »Diese beiden Männer sind einwandfrei als die Mörder unseres lieben Genossen Juri Iwanenko identifiziert worden.«
Er weiß anscheinend gar nicht mehr, daß er Iwanenko früher gehaßt und zum Teufel gewünscht hat, dachte Rudin grimmig.
»Darüber brauchen wir nicht weiter zu diskutieren«, wehrte er ab. »Die beiden Männer werden sowieso wegen des Mordes an dem Aeroflot-Flugkapitän von uns liquidiert.«
»Vielleicht auch nicht!« widersprach Wischnajew in gutgespielter Empörung. »Offenbar wollen die Deutschen sie freilassen und nach Israel abschieben. Der Westen ist schwach und kann den Terroristen an Bord der ›Freya‹ nicht lange Widerstand leisten. Falls diese beiden Männer lebend nach Israel kommen, packen sie dort aus. Und ich glaube, Genossen, daß wir alle wissen, was sie sagen werden.«
»Was verlangen Sie also?« fragte Rudin. Wischnajew stand auf. Kerenski folgte seinem Beispiel und erhob sich ebenfalls.
»Ich fordere eine außerordentliche Versammlung des Politbüros, die morgen abend um neun Uhr in diesem Raum stattfinden soll. Wir wollen über ein Thema von größter nationaler Bedeutung beraten. Das ist doch mein Recht, Genosse Generalsekretär?«
Rudin nickte langsam.
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