Des Teufels Alternative
Er ließ ihr zwei Minuten Vorsprung, dann kehrte er zu seiner Begleiterin zurück, die ihn bereits ungeduldig erwartete.
Es war 3 Uhr morgens, als Munro den Plan Boris , Marschall Kerenskis Plan für die Eroberung Westeuropas, zu Ende gelesen hatte. Er schenkte sich einen doppelten Cognac ein und starrte die Blätter auf dem Wohnzimmertisch an. Walentinas gutmütiger, freundlicher Onkel Nikolai hatte hat sich unmißverständlich ausgedrückt.
Munro verbrachte zwei Stunden damit, eine Europakarte anzustarren. Bei Sonnenaufgang war er ebenso wie Kerenski davon überzeugt, daß Westeuropa mit konventionellen Waffen zu erobern war. Zweitens war er wie Rykow davon überzeugt, daß das zu einem Atomkrieg führen würde. Und drittens war er davon überzeugt, daß die sechs Politbüromitglieder, die anderer Meinung waren, sich nur durch die tatsächlich stattfindende Katastrophe würden umstimmen lassen.
Er stand auf und trat ans Fenster. Im Osten wurde es über den Kremltürmen hell. Für die Moskauer begann ein Sonntag wie jeder andere. Zwei Stunden später würde er für die Londoner und wiederum fünf Stunden später für die New Yorker beginnen.
Soweit Munro zurückdenken konnte, war der normale Ablauf der Sommersonntage von einem empfindlichen Gleichgewicht abhängig gewesen; einem Gleichgewicht des Glaubens an die Macht und Willensstärke der feindlichen Supermacht, einem Gleichgewicht der Glaubwürdigkeit, einem Gleichgewicht des Schreckens – aber immerhin war es ein Gleichgewicht gewesen. Er erschauerte. Nicht wegen der Morgenkühle. Er erschauerte wegen der Erkenntnis aus den Papieren hinter ihm auf dem Tisch. Das alte Schreckgespenst war aus dem Schatten getreten: Das Gleichgewicht drohte zerstört zu werden.
Andrew Drake war an diesem Sonntag bei Sonnenaufgang in erheblich besserer Laune, denn ihm hatte der Samstagabend erfreulichere Nachrichten gebracht.
Jedes Teilgebiet menschlichen Wissens – sei es noch so klein, sei es noch so verborgen – hat seine Experten und seine Anhänger. Und jede dieser Gruppen scheint einen Treffpunkt zu haben, an dem man zusammenkommt, um zu schwatzen, zu diskutieren, Informationen auszutauschen und die neuesten Gerüchte zu verbreiten.
Die Schiffsbewegungen im östlichen Mittelmeer sind wohl kaum ein Thema, mit dem man sich akademische Ehren erwirbt, aber sie sind sehr interessant für gestrandete arbeitslose Seeleute. Das Informationszentrum für solche Schiffsbewegungen ist das kleine Hotel Cavo d’Oro , das an einem der Jachtbecken im Hafen Piräus steht.
Drake hatte bereits die Geschäftsräume der Agenten – und vermutlichen Eigner – der Salonika Line ausgemacht, aber er wußte, daß er nichts Ungeschickteres tun konnte, als sich dort vorzustellen.
Statt dessen nahm er sich ein Zimmer im Cavo d’Oro , gab sich als arbeitsuchender Seemann aus, verbrachte die meiste Zeit an der Bar, wo Kapitäne, Schiffsoffiziere, Bootsmänner, Agenten, Schiffsmakler und Stellungsuchende bei Drinks zusammensaßen und die letzten Neuigkeiten untereinander austauschten. Am Samstagabend fand Drake seinen Mann: einen Bootsmann, der früher bei der Salonika Line gefahren war. Nach einer halben Flasche Retsina erhielt Drake die gewünschte Auskunft.
»Die ›MS Sanadria‹ läuft ziemlich regelmäßig Odessa an«, erfuhr er. »Sie ist ein lahmer alter Kahn. Der Kapitän heißt Nikos Thanos. Soviel ich weiß, ist sie gerade im Hafen.«
Die Sanadria war tatsächlich im Hafen; Drake entdeckte sie im Laufe des Vormittags. Sie war ein etwa 5000BRT großer Frachter des im Mittelmeer noch häufigen Dreiinseltyps: rostig und nicht allzu sauber. Drake hätte sich selbst an einem Dutzend Lecks nicht gestört, wenn ihre nächste Reise nur ins Schwarze Meer und nach Odessa führte.
Bei Sonnenuntergang fand er den Kapitän der Sanadria. Bis dahin hatte er in Erfahrung gebracht, daß sowohl Thanos als auch alle seine Offiziere von der griechischen Insel Chios stammten. Die meisten dieser von Griechen geführten Schiffe gleichen Familienunternehmen: Der Kapitän und seine Offiziere sind im allgemeinen auf derselben Insel zu Hause und oft miteinander verwandt. Drake sprach kein Griechisch, aber zum Glück wird die internationale Schiffahrtssprache Englisch auch in Piräus gesprochen, so daß er sich mit dem Kapitän verständigen konnte.
Nordeuropäer streben nach der Arbeit heim, Frau und Kindern zu. Levantiner zieht es ins Café, wo man Freunde treffen und schwatzen kann. In Piräus ist
Weitere Kostenlose Bücher