Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
ahnten.« Hans Mergel gelang es tatsächlich, die stimme des Kreischenden zu übertönen, um ein Gespräch mit Anna und Balthasar zu beginnen. »Zunächst haben sie den Menschen tatsächlich Angst und Schrecken eingejagt, aber mittlerweile ist es doch allen schietegal, ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Schlimmer als das, was man auf der Erde erleben muss in diesen Tagen, kann es eh nicht mehr werden.
Habe mal einen gesehen, einen von diesen Schelmen, der hat es fertiggebracht, ein ganzes Dorf aus den Häusern zu locken und mit sich zu führen. Fünfzig Leute, mindestens, schritten da hinter ihm her, jammerten und klagten. Ja, die haben sich sogar die Kleider vom Leibe gerissen, selbst die Weiber, und haben sich mit Ruten die Rücken blutig geschlagen. Auch gegenseitig.
Und während die tagelang so dahinmarschierten und dem Rattenfänger nachliefen, haben in der Zwischenzeit dessen Kumpanen ihre Häuser leergeräumt. So läuft das mit diesen Wehklägern, alles abgebrühte Hunde. Von wegen Verkünder des Herrn! Halunken sind das.«
»Und ich will meinen zwei Zeugen auftragen, im Bußgewand aufzutreten und prophetisch zu reden, zwölfhundertsechzig Tage lang.«
»Na, da haben wir ja noch was zu erwarten«, kommentierte Hans Mergel.
Die Predigt wollte kein Ende nehmen. Von Feuerspuckern, blutigem Wasser, allen möglichen Plagen und einem entsetzlichen Tier, das aus dem Abgrund steigen werde, erzählte der Prophet im immer gleichbleibend klagendem Ton, während er das Gespann verfolgte.
Am Abend hielten sie, um ihr Nachtlager zu errichten. Es war angenehm warm, und deshalb beschlossen die drei, im Freien unter ihren Leinenzelten zu schlafen. Ihr Gast war noch immer zugegen und hatte mittlerweile zu schreien aufgehört. stumm saß er, nicht weit von ihnen, mit angewinkelten Beinen da und wiegte seinen dürren Körper vor und zurück.
Anfangs hatte Anna, ähnlich ihrem Begleiter Mergel, nur lachen müssen über den klapprigen Wanderpropheten. Doch je länger er hinter ihnen herlief und je länger seine eindringliche und unangenehm helle Stimme sich in ihr Ohr fraß, desto banger wurde ihr. Noch immer, obwohl er schon seit mehr als einer Stunde schwieg, tönten seine Worte in Annas Kopf nach: »Weh aber euch, Land und Meer! Denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen.«
Anna wusste nicht genau, was sie mehr beunruhigte: der Inhalt oder der Klang seiner Worte. Es gelang ihr nicht, in dieser Nacht zur Ruhe zu kommen. Mit geschlossenen Augen, aber wachem Geist lag sie auf ihrem Schaffell und hoffte, dass das Schreckgespenst blieb, wo es war, oder vielleicht sogar ganz und gar verschwand. Jede Sekunde befürchtete sie, dass das Schreien erneut anhub und ihnen allen die Nacht zum Tage machen würde.
Doch erstaunlicherweise blieb der Prediger still – so lange, bis Anna plötzlich seinen fauligen Atem direkt über sich wahrnahm.
»Das Tier, das du gesehen hast«, flüsterte er, »war einmal und ist jetzt nicht; es wird aber aus dem Abgrund heraufsteigen und dann ins Verderben gehen.«
Annas Augen waren weit geöffnet, vor Schreck und Ekel hielt sie die Luft an. Was meinte dieser Sonderling? Sprach er etwa von dem Mörder, ihrem dubiosen Verfolger, dem Herrn der Sanduhren?
»Verschwinde!«, befahl sie ihm entschieden.
Und dann änderte sich sein Tonfall. Aus der unangenehmen Fistelstimme wurde ein warmer, männlicher Bariton: »Ich will dich warnen. Das Tier ist längst unter uns. Es versteckt sich überall. Manchmal verbirgt es sich für Jahre, um dann wieder hervorzuspringen. Schlimmer und grausamer als je zuvor. Wir bemerken es nicht, weil wir nicht besser sind als das Tier. Das ist unser Schicksal, unser Verderben, wir erkennen das Böse nicht, wenn es unter uns weilt, weil wir selbst böse sind.«
Am nächsten Morgen – Anna hatte sich die ganze restliche Nacht unter einer Wolldecke vergraben – war der Fremde verschwunden. Mit ihm ein Großteil des Vorrats – und der Hund.
»Der kommt bestimmt zurück. Das ist doch eine treue Seele. So einer verschwindet nicht auf Nimmerwiedersehen.« Hans Mergel versuchte Balthasar zu beruhigen, der furchtbar unglücklich über das Verschwinden seines vierbeinigen Freundes war. »Weißt du, Junge, ich brauche ohnehin eine Pause. Mal wieder was Ordentliches zwischen die Zähne und eine angenehme Bettstatt für mein einziges Bein. Nicht weit von hier, in Nördlingen, da lebt ein alter Kamerad von mir. Ein Gerbergeselle, den ich auf der Wanderschaft – damals,
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