Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)

Titel: Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
Vom Netzwerk:
schleichen.
    Zunächst konnte sie im Innern nichts Besonderes ausmachen, denn alles war leer, lediglich ein wenig unbrauchbares Gerümpel lag herum. Doch als sie den Blickwinkel etwas veränderte und ihren Kopf nach links drehte, erkannte sie in einer Ecke die Quelle des Gurgelns. Und während sie noch immer nicht ihren entsetzten Blick von der unwirklichen Szene lösen konnte, sah sie, wie ein schwarzer Schatten sich erschreckt in ihre Richtung wandte, augenblicklich von seinem weiteren Vorhaben absah und sich dann in Windeseile durch ein Hinterfenster aus dem Staub machte. Das Röcheln jedoch blieb, und es dauerte noch immer eine Weile, bis Anna sich von dem Guckloch entfernte und sich in das düstere Gemäuer begab, um nach dem Rechten zu sehen.
    Als sich ihre Augen an den Lichtunterschied gewöhnt hatten, konnte sie in der Ecke eine Frau liegen sehen. Anna ging langsam auf sie zu. War das Rosi?
    Ja, tatsächlich, es war Rosi! Die lebensfrohe Magd, die es in all diesen Hungermonaten geschafft hatte, weiterhin drall und wohlgeformt zu bleiben.
    Doch heute erging es Rosi schlecht, sehr schlecht. Jeden Moment würde sie sterben, denn ihre Kehle war so weit durchtrennt, dass es fast einem Wunder glich, wie sie überhaupt noch ihre Augen offenhalten und Anna mit einem hilfesuchenden Blick anschauen konnte.
    »Was ist passiert?«, fragte Anna und kniete sich neben die sterbende.
    Rosi schüttelte nur leicht den Kopf und hielt sich krampfhaft den blutenden Hals. Ihre Lippen formten Worte, doch aus ihrem Rachen kam nichts weiter als ein entsetzliches Röcheln und Gurgeln.
    Anna versuchte zu verstehen, was ihr die junge Frau mitteilen wollte. Und nachdem Rosi etwa zehnmal ein und dieselben Mundbewegungen gemacht hatte, glaubte Anna es erraten zu können: »Nur weil ich gelacht habe.«
    Ja, das war es – Rosi sagte immer und immer wieder diesen einen satz: »Nur, weil ich gelacht habe.«
    Wenige Augenblicke später war sie tot.
    Anna legte die Verstorbene, deren Kopf sie bis dahin gestützt hatte, sanft auf den Boden. Erst dann sah sie sich im Raum um, und es dauerte nicht lange, bis sie fand, was sie zu finden befürchtet hatte. Unweit über ihr, in der anderen Ecke des Zimmers, war ein Seil vorbereitet, ein Seil, an welchem die arme Rosi hätte aufgehängt werden sollen. Und dann, als Anna wieder nach draußen ging, fand sie auch das Hündchen. Es war ganz dünn und gar nicht mehr so jung. Ängstlich hatte es sich in einem alten Eimer verkrochen und schaute sie nun aus gro ßen schwarzen Augen an. Um seinen Hals war bereits die Leine gelegt, mit der es an Rosis Füßen hätte befestigt werden sollen.
    Anna war nicht fassungslos, sie war auch nicht mehr erschrocken, selbst panisch war sie nicht. Nein, Anna war wütend und gleichzeitig entschlossen.
    Woher auch immer sie die Kraft nahm, sie rannte los. Und dieses Mal rannte sie nicht weg, sondern sie lief ihm hinterher. Lief in die Richtung, in die er, der Schatten, davongestürmt war, lief und lief, bis ihr schließlich schwarz vor Augen wurde und sie sich in eine Wiese setzte.
    Es bestand kein Zweifel mehr: Er war hierhergekommen. Hierher in Annas Ort. Reglos saß sie da und starrte in den Himmel. Und als sie sich Stunden später wieder aufraffte und den Heimweg antrat, hatte sie einen Entschluss gefasst.
    Der Löwenzahn und die Brennnesseln waren verdorrt, die Hagebutten zur Hälfte aus ihrer Schürzentasche gerollt und verloren, und die Schnecken waren allesamt nicht nur ihres Hauses, sondern auch ihres Lebens verlustig gegangen und zum Teil sehr unappetitlich zerdrückt.
    Von dem Vorfall des Nachmittags erzählte Anna ihren Freunden nichts. Und diese stellten auch keine Fragen – nicht einmal, als sie sahen, dass das Kleid ihrer Ernährerin voller Blutflecken war. Es interessierte die beiden nicht, hatten sie doch genug von Schauergeschichten und schrecklichen Vorkommnissen.
    Anna jedoch dachte viel über das nach, was geschehen war. Sie war wieder hellwach. Dieser erneute Mord, diese Schandtat, die nach außen so gar nicht anders war als all die anderen, die hier tagaus, tagein passierten – diese Schandtat hatte sie aus ihrem Delirium gerissen. Endlich, nach Wochen, hatte sich wieder eine Gefühlsregung in ihr gezeigt, endlich, nach Wochen, hatte sie wieder ein Ziel.
    Das Gefühl, welches sie beseelte, war Wut. Wut darüber, dass sie immer und immer wieder mit diesem selben Schrecken konfrontiert wurde, dass es kein Ende nahm; und auch Wut darüber, dass sie nicht

Weitere Kostenlose Bücher