Des Teufels Werk
Derbyshire fortgepflanzt zu haben – erst hatte Jess' Vater diese Rolle übernommen und nach seinem Tod Jess selbst. Obwohl sie beide für ihre Dienste nicht bezahlt wurden, waren sie jederzeit für Lily da und versorgten sie sogar mit Obst und Gemüse vom Hof, ohne etwas dafür zu verlangen.
Madeleine, Lilys Tochter, hielt dies anscheinend für selbstverständlich. Sie hatte in London mit ihrem Mann und einem elfjährigen Sohn zu tun und verließ sich darauf, dass Jess Aufgaben erfüllte, für die sie selbst keine Zeit hatte. Trotzdem machte sie kein Hehl aus ihrer Abneigung gegen Jess; und ebenso wenig verbarg Jess ihre Abneigung gegen Madeleine. Niemand kannte die Gründe für die Feindschaft, aber in Winterbourne Barton hatte man eindeutig mehr Verständnis für Lilys Tochter. Madeleine war eine attraktive Frau von vierzig Jahren, im Gegensatz zu ihrer Mutter und Jess offen und freundlich und im Dorf allgemein beliebt. Jess unterstellte man, sie lege es aus fragwürdigen Motiven darauf an, sich einer reichen Frau unentbehrlich zu machen.
Im Juni 2003 wurde bei Lily die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert. Sie war siebzig Jahre alt, relativ jung also für die Krankheit, die sich jedoch noch im Anfangsstadium befand. Abgesehen von kurzen Gedächtnisausfällen gab es keinen Grund, warum Lily nicht noch eine ganze Weile ein selbständiges Leben führen sollte. Im Herbst führte geistige Verwirrung einmal dazu, dass sie sich verlief. Nachbarn wurden auf sie aufmerksam, als sie in Winterbourne Barton umherirrte. Da niemand wusste, dass sie an Alzheimer litt und sie sehr vernünftig reagierte, als sie ihr zeigten, in welche Richtung sie gehen musste, um nach Hause zu kommen, nahmen sie an, sie wäre nur ein wenig exzentrisch.
Über Weihnachten und Neujahr verschlechterte sich ihr Zustand merklich. Im Januar drang sie viermal abends durch unverschlossene Hintertüren in fremde Häuser ein, während die Bewohner beim Fernsehen saßen, und schlich sich auf Zehenspitzen in das obere Stockwerk. Sie wusch sich mit den Waschlappen der Leute Gesicht und Hände, putzte sich mit ihren Zahnbürsten die Zähne, legte sich dann voll bekleidet in eines ihrer Betten und schlief ein. Als sie entdeckt wurde, reagierte sie aggressiv, ließ sich aber mit einer Tasse Tee und einem Keks schnell beruhigen.
Jedes Mal brachten die Leute, die von Lilys schwerer Erkrankung – trotz ihrer ungepflegten Erscheinung und ihres bizarren Verhaltens – nichts gewusst haben wollten, sie mit dem Auto nach Hause und ließen es dabei bewenden. Sie sagten, sie sei ungehalten und schroff gewesen und habe darauf bestanden, unverzüglich nach Hause gebracht zu werden. Hilfe habe sie nur von Jess Derbyshire oder Dr. Peter Coleman annehmen wollen und ihre Retter weggeschickt, sobald die sie vor ihrer Hintertür abgesetzt hätten.
Natürlich wurde im Dorf über diese Vorfälle gesprochen, aber man war sich offenbar einig darin, dass es das Beste sei, sich nicht einzumischen. Sonst würde man nur, wenn schon nicht Lilys, so ganz bestimmt Jess Derbyshires scharfe Zunge zu spüren bekommen. Wäre Peter Coleman erreichbar gewesen, so hätte man sich an ihn gewandt, aber er war im Urlaub und wurde erst Ende Januar zurückerwartet. Man hinterließ Madeleine eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, aber auch sie war verreist, und niemand war couragiert genug, um Peter Colemans Vertreter darauf aufmerksam zu machen, dass Mrs. Wright sich seltsam benahm.
Später zeigten alle auf Jess. Woher hätten sie in Winterbourne Barton denn wissen sollen, dass sie seit November nichts mehr mit Lily zu tun gehabt hatte? Sie war doch jahrelang um die alte Frau herumscharwenzelt, wusste besser als alle anderen, wie es um ihr geistiges Befinden stand, und hatte sie einfach im Stich gelassen, als ihr die Konsequenzen der Krankheit zu anstrengend geworden waren. Warum hatte sie mit niemandem über Lilys Zustand gesprochen?
Aber Jess war es, die Lily das Leben rettete. Am dritten Freitag im Januar fand sie sie kaum noch atmend und nur mit einem Nachthemd bekleidet abends um elf am Fischteich im Garten von Barton House. Da sie es nicht schaffte, Lily zur Hintertür zu tragen und mit ihrem Handy keine Hilfe holen konnte, weil sie dort keinen Empfang hatte, fuhr sie ihren Land Rover rückwärts über den Rasen, hievte Lily hinten hinein und fuhr mit ihr zur Barton Farm, von wo sie den Arzt anrief.
Es gab keinen Beifall, nur neuen Argwohn. Was hatte Jess mitten in der Nacht in Lilys
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