Des Todes Liebste Beute
überrascht.
»Es scheint Sie nicht zu wundern, dass ich hier bin, Mrs. Whitman«, sagte Kristen ruhig.
»Nein.« Die ältere Frau trat einen Schritt zurück. »Treten Sie ein, wenn es sein muss.«
Das war zwar keine besonders freundliche Begrüßung, dachte Abe, aber zumindest hatte die Frau ihnen nicht direkt die Tür vor der Nase zugeschlagen. Auf der Fahrt hierher hatte Mia ihm erzählt, dass Mr. Whitman nach dem verlorenen Prozess böse Briefe an Kristens Chef geschrieben und verlangt hatte, dass die junge Staatsanwältin wegen Inkompetenz entlassen wurde.
Dass Kristen sich noch immer schuldig fühlte, weil sie Ramey damals nicht hatte festnageln können, war unten bei den Autos deutlich zu sehen gewesen. Mit Angst im Blick hatte sie zum Haus hinaufgestarrt. Doch nun, hier drin, war sie gefasst und beinahe gelassen, und Abe zollte ihr Respekt dafür.
»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen keinen Tee anbiete«, sagte Mrs. Whitman und führte sie ins Wohnzimmer. Abe setzte sich so, dass er Mrs. Whitmans Gesicht sehen konnte. Er hatte es ernst gemeint, als er am Abend zuvor gesagt hatte, dass eines der ursprünglichen Opfer die Morde begangen haben konnte.
Ursprünglich
war das Wort, das ihm nun stets bei den elf Namen einfiel, die auf den Grabsteinen eingraviert waren. Dass die fünf Toten ihr Schicksal verdient hatten, änderte nichts an der Tatsache, dass sie ermordet worden waren. Eines der Opfer dieser Männer konnte sich den ganzen Plan ausgedacht und bei seiner Racheaktion gleich noch ein paar andere Mistkerle mit erledigt haben. Was für ein bitter ironisches Dilemma für die Staatsanwaltschaft.
Kristen setzte sich ebenfalls und legte die Hände im Schoß zusammen. »Das sind die Detectives Mitchell und Reagan. Mrs. Whitman, wieso sind Sie nicht erstaunt, mich zu sehen?« Kristens Frage klang sehr ruhig, und Abe war albernerweise stolz auf ihre Haltung.
Mrs. Whitman schürzte die Lippen, stand auf und nahm einen Umschlag vom Schreibtisch.
Schon wieder ein Umschlag,
dachte Abe. Ohne ein weiteres Wort reichte sie ihn Kristen, die den Brief herausholte, ihn überflog und schließlich seufzte.
»›Meine liebe Mrs. Whitman‹«, las sie. »›was Sie erleiden mussten, entzieht sich jeder Beschreibung, daher will ich es gar nicht versuchen. Ich möchte Sie nur wissen lassen, dass Ihr Peiniger endlich seine gerechte Strafe erhalten hat. Er ist tot. Mir ist bewusst, dass auch dies nicht wieder gutmachen kann, was Ihnen angetan worden ist, aber vielleicht ist es Ihnen nun möglich, Ihr Leben fortzusetzen.‹« Sie schaute auf. »›Ihr ergebener Diener.‹«
»Es stimmt also?«, fragte Mrs. Whitman. »Ramey ist tot?«
Kristen nickte. »Ja. Wann haben Sie diesen Brief bekommen, Mrs. Whitman? Und wie?«
»Er lag heute Morgen auf der Fußmatte unter der Zeitung.«
Nachdem Kristen die Kisten in ihrem Kofferraum entdeckt hatte, dachte Abe. Der Zeitpunkt war interessant, die Zustellungsmethode so unauffällig, dass sie nichts finden würden. Natürlich würde es keine Fingerabdrücke geben. Aber sie konnten immerhin den Zeitungsjungen fragen, um die Zeit einzugrenzen. »Haben Sie außer dem Brief noch etwas erhalten?«, fragte Abe. Mrs. Whitman begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Nein. Nur den Brief. Warum?«
Kristen schob das Blatt zurück in den Umschlag und reichte ihn Mia. »Die Detectives werden überprüfen müssen, wo Sie sich zum Zeitpunkt von Rameys Tod aufgehalten haben, Mrs. Whitman.«
Mia steckte den Brief in eine Tüte. »Und wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie und Ihr Mann bald in die Dienststelle kämen, damit wir Ihre Fingerabdrücke nehmen können. Wir müssen sie von eventuellen anderen auf dem Schreiben unterscheiden können.«
»Ich kann Ihnen einige Mühe ersparen, Detectives«, sagte Mrs. Whitman viel zu sanft. »Falls Ramey in der Nacht getötet worden ist, dann habe ich kein Alibi. Ich war allein hier. Ich habe Ramey nicht getötet, aber der, der es getan hat, hat meinen Segen.«
»Und Mr. Whitman?«, fragte Kristen.
»Ist weg.« Einen Augenblick dachte Abe, sie würde die Fassung verlieren, aber sie holte tief Luft und fing sich wieder. »Er hat ein Jahr nach dem Prozess die Scheidung eingereicht.«
»Wir brauchen seine Adresse, Ma’am«, sagte er. Mrs. Whitmans Augen blitzten vor Schmerz und Wut und Scham auf, und Abe empfand Mitleid. »Es tut mir Leid.«
Donnerstag, 19. Februar, 18.00 Uhr
Wenn man die Gespräche mit Sylvia Whitman und
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